Silberflügel: Roman (German Edition)
Kathedrale. Er musste an das Große Versprechen denken, diesen Ring aus Licht, und wurde ungeduldig. Es gab so viel, was er gerne wüsste.
Unterhalb der Lichter hielten sich Menschen auf. Sie saßen in regelmäßigen Reihen und blickten auf eine erhöhte Plattform, auf der ein einzelner Mann in weiten Gewändern stand. Schatten hielt Distanz und blieb in der Nähe des Dachstuhls. Er sandte schnelle Klangimpulse aus.
So sahen sie also aus.
Natürlich hatte seine Mutter sie ihm beschrieben, und man erzählte sich immer Geschichten über sie. Aber sie waren riesig, viel größer, als er sie sich vorgestellt hatte. Ihre Glieder waren dick und kräftig. Wie ist das nur, fragte er sich, wenn man niemanden zu fürchten hat. Wenn man nicht ständig den Horizont absuchen muss, selbst beim Essen, um sicher zu sein, dass sich nichts heranschleicht.
Sie hatten natürlich keine Flügel. Eine ganze Weile starrte er ihre Rücken und Schultern an, nur um sicherzugehen. Er hatte einen Anflug von Mitleid. Wie furchtbar, das ganze Leben lang am Boden festzukleben, wenn sich andere Geschöpfe über einem nach oben schwingen konnten. Nicht fliegen zu können, das war unvorstellbar! Trotzdem sollte er wohl kein Mitleid für sie empfinden. Vielleicht machte es ihnen ja gar nichts aus. Jedenfalls erinnerte er sich, wie Frieda einmal davon gesprochen hatte, dass sie metallene Maschinen besaßen, mit denen sie fliegen konnten. Anscheinend hatten sie für praktisch alles irgendwelche Maschinen. Sie waren Genies.
Er fand Marina, die aufmerksam die Menschen beobachtete. Sie blickte sich nicht nach ihm um, als er sich bei ihr niederließ.
„Ich habe noch nie so viele auf einmal gesehen“, hauchte sie mit erwartungsvollem Gesicht, als würde gleich etwas Wunderbares geschehen.
Plötzlich standen alle Menschen auf und sprachen im Chor. Ihre tiefen, langsamen Stimmen füllten die Kathedrale. Was sagten sie? Eine fremdartige Musik wirbelte von einer Anordnung von Pfeifen auf einer Empore nach oben.
Schatten wünschte sich, er könnte verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Die Luft war aufgeladen von der angestrengten Konzentration der Menschen, und Schatten sträubte sich das Fell.
„Ich möchte zu ihnen“, sagte Marina, und Schatten war bewegt von dem sehnsüchtigen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Verlegen rümpfte er die Nase. Er empfand nicht die gleiche Leidenschaft wie sie, und das irritierte ihn.
Der Ring – es musste mit dem Ring zu tun haben, und er besaß ja keinen.
„Nachdem mich meine Kolonie verlassen hatte“, sagte sie, „habe ich immer nach den zwei Menschen gesucht, die mich beringt haben. Einmal dachte ich, ich hätte sie gefunden. Es war dumm, ich will sagen, es war ja nicht so, als ob ich sie gut zu sehen bekommen hätte. Trotzdem bin ich zu ihnen hingeflogen, und es war genauso wie mit den Fledermäusen. Sie hatten Angst. Sie wedelten mit den Armen, schrien und bedeckten ihre Gesichter.“ Sie lachte kurz. „Sie waren nicht gerade begeistert mich zu sehen.“
„Nicht alle Menschen sind gleich“, sagte Zephir und kam zu ihnen heruntergeflattert. „Diejenigen, die die Ringe ausgeben, werden keine Angst vor dir haben.“
„Wenn wir sie jemals finden“, sagte Marina.
Die Menschen hörten auf zu sprechen und standen schweigend da.
„Beten sie nun?“, fragte Schatten Zephir.
„Ich denke, ja.“
Es war verwirrend. Was gab es denn noch, wofür sie beten mussten? Hatten sie nicht schon alles, was sie brauchten?
„Sie führen einen eigenen Krieg, wisst ihr“, sagte Zephir.
Schatten blickte ihn erstaunt an. „Mit den vierfüßigen Tieren? So muss es sein, die Vögel sind zu klein dafür. Affen? Die werden’s sein, oder vielleicht die Wölfe? Ich habe Geschichten gehört, wie stark …“
„Sie führen Krieg untereinander, soweit ich das verstehe.“
Menschen kämpfen gegen Menschen – es ging über seinen Verstand! „Warum denn?“
„Das weiß ich nicht. Der Krieg findet weit weg von hier statt. Darum brauchst du dich jetzt nicht zu kümmern. Worum du dich kümmern musst, das sind die Tauben. Sie suchen nach dir.“
„Hier?“
„Keine Angst. Sie wagen es nicht auf der Kathedrale zu landen. Sie haben anscheinend größere Angst vor den Wasserspeiern als je.“
„Die werden lebendig, das glauben jedenfalls einige von den Tauben.“
„Es waren aber richtige Fledermäuse, die diese zwei Soldaten letzte Nacht getötet haben.“
„Wer sind sie?“
„Ich kenne sie nicht.“ Die weiße
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