Silberflügel: Roman (German Edition)
wusste das natürlich, aber in seiner Aufregung hatte er es glatt vergessen. Die Sterne waren nicht einfach am Himmel festgemacht. Seine Mutter hatte ihm erklärt, wie sie jede Nacht in einem Kreis herumwanderten, dorthin zurückkehrten, von wo sie aufgebrochen waren. Aber das war auch alles, was er wusste. Das Navigieren nach Sternen hatte er noch nicht gelernt.
„Ich denke, ich kann damit umgehen“, sagte Marina.
Schatten zog eine Grimasse. Er hatte das Rätsel gelöst, und nun musste Marina den Rest erledigen.
„Wir müssen unsere Richtung jede Nacht zur gleichen Zeit festlegen“, sagte sie, während sie auf das Leuchten am westlichen Horizont schaute. „Kurz nach Sonnenuntergang. Wir werden, wenn wir einmal die Stadt verlassen haben, nicht mehr dieses Bong-Geräusch haben, das uns die Zeit angibt.“
„Ihr werdet lernen müssen, die Zeit im Kopf zu messen“, sagte Zephir. „Euer Körper weiß sehr gut, wie viel Zeit mit jedem Flügelschlag vergangen ist. Die Sterne wandern mit einer gleich bleibenden Geschwindigkeit. Wenn ihr die einmal kennt, könnt ihr euren Kurs während der ganzen Nacht überprüfen, indem ihr den gleichen Stern als Führer nehmt.“
„Oh, sicher, jetzt verstehe ich“ sagte Schatten forsch und blickte durch das Kreuz. Es schien aber furchtbar schwierig.
„Ihr werdet es schaffen“, sagte der Hüter des Turms, „ihr beide zusammen.“
Schatten blickte über die Stadt hinweg. In der frischen Luft fröstelte ihn. Sie war nicht mehr ungefährlich, die Nacht. Die Tauben würden nach ihm und Marina suchen. Die Vorstellung, wieder aufzubrechen, machte ihn müde. Wer wusste schon, wie lange es dauern würde, bis sie die anderen eingeholt hätten. Für einen Augenblick wünschte er, er könnte mit Zephir hier beim Turm bleiben. Es wäre gar nicht so schlecht. Man war hier in Sicherheit und offenbar war es auch im Winter warm genug. Und man konnte damit rechnen, dass es eine Menge zu lernen gab. Zephir wusste anscheinend fast so viel wie Frieda …
„Am besten brichst du jetzt auf, Silberflügel“, sagte Zephir liebevoll.
„Ja“, sagte Schatten dankbar. Natürlich musste er weiter.
„Folge deinem Stern“, sagte Zephir und reckte sein Kinn hoch. Es sah so aus, als ob er den Stern direkt anblickte.
„Du kannst ihn sehen?“, fragte Schatten.
„Mit den Ohren“, entgegnete die alte Fledermaus einfach.
Schatten pfiff ungläubig. Wie konnte man die Sterne hören? Unmöglich! Sie waren viel zu weit weg.
„Wenn du einen deiner Sinne verlierst, entwickelst du deine anderen Sinne um ein Vielfaches“, sagte Zephir. „Und wie willst du wissen, dass du die Sterne nicht hören kannst, wenn du ihnen nur genug Aufmerksamkeit widmest? Es ist lediglich eine Frage der Übung und der Ausdauer.“
„Das glaube ich gern“, sagte Schatten. Er nahm sich vor zu versuchen, genauer auf die Dinge zu horchen.
„Ich sehe die Dinge auch hier drinnen“, sagte die weiße Fledermaus und deutete mit einer weißen Kralle auf ihren Kopf.
„Was zum Beispiel?“, fragte Marina.
„Die Vergangenheit, die Zukunft. Es ist alles nur eine Frage von Echos. Wenn du hinhörst, kannst du noch die Schwingungen von Dingen hören, die gerade passiert sind, vor einer Sekunde, vor einer Stunde. Wenn du wirklich genau hinhörst, kannst du noch Dinge wahrnehmen, die im letzten Winter passiert sind oder vor zehn Wintern, als ob sie sich direkt vor deinen Augen abspielten. Mit der Zukunft ist es genauso. Alles macht ein Geräusch, und es ist nur eine Frage der Zeit, bevor es dich erreicht. Aber wenn du ein sehr gutes Gehör hast, kannst du es von sehr weit her kommen hören.“
„Kannst du sehen, ob wir die Kolonie einholen?“, fragte Schatten, ohne zu überlegen. Wie hätte er auch auf diese Frage verzichten können?
Die weiße Fledermaus duckte sich ein wenig und erstarrte in angespannter Konzentration. Die großen spitzen Ohren waren nach oben gerichtet und weit geöffnet.
Dann breitete er mit einem Seufzer die hellen Flügel aus, als ob sie ihm irgendwie helfen könnten das Geräusch aufzufangen.
Während Schatten schweigend zuschaute, hatte er den Eindruck, dass die Unterseite von Zephirs Flügeln dunkler wurde. Schatten blinzelte, weil er glaubte, seine Augen spielten ihm einen Streich, vielleicht spiegelte Zephirs bleiche Haut nur auf etwas gespenstische Weise den dunklen Himmel wieder. Aber die Flügel wurden tatsächlich schwarz und funkelten dann, als …
Zephir faltete die Flügel plötzlich
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