Silberglocken
eine Mutter hatte, mit der sie sprechen konnte, zu der sie Vertrauen hatte, eine Mutter, die nicht verurteilte, sondern zuhörte und riet.
“Was tust du denn hier?” fragte Gene Tarkington. Er lehnte in lässiger Haltung am Türrahmen von Philips Büro. Alle anderen Zimmer auf der Etage waren dunkel und verwaist.
“Ich wollte einfach noch einmal die Zahlen durchgehen”, murmelte Philip und sah angestrengt auf den Computerbildschirm. Gene war zwar einer seiner besten Freunde, aber im Augenblick wäre ihm lieber gewesen, er würde ihn allein lassen.
“He, wir haben praktisch Weihnachten. Hast du da nichts Besseres zu tun, als im Büro herumzuhängen?”
“Und du?” gab Philip zurück. Er war schließlich nicht der Einzige hier, der viel arbeitete.
“Ich wollte nur ein paar Papiere holen, und da habe ich bei dir Licht gesehen. Ich dachte, du wolltest heute mit Mackenzie zum Essen gehen und einen auf Vater und Tochter machen. Deine Kleine ist wirklich rührend. Weißt du das überhaupt?”
“Wir waren auch beim Essen”, berichtete Philip und verzog das Gesicht. “Aber meine Tochter hatte leider nicht nur mich eingeladen.”
“Willst du damit sagen, dass sie diese Nachbarin angeschleppt hat, von der du mir erzählt hast?”
“Haargenau.” Philip runzelte die Stirn. Er hatte sich sehr über Mackenzie geärgert. Aber natürlich hätte er zumindest ahnen müssen, dass so etwas passieren würde. Was ihn viel mehr beunruhigte, war sein Herzklopfen bei Carries Anblick.
Er wollte das nicht. Es hatte ihn genug Anstrengung gekostet, sich gegen seine Gefühle immun zu machen. Seine Ehe war die Hölle gewesen, und noch einmal wollte er sich das nicht antun. Carrie Weston konnte ihm gefährlich werden, das wusste er instinktiv. Jedes Mal, wenn er in ihrer Nähe war, fühlte er sich wie neben einem Vulkan.
“Mackenzie hat immer schon ihren eigenen Kopf gehabt. Was hast du eigentlich gegen diese Nachbarin? Sie ist doch nicht alt und hässlich, oder?”
“Nein.” Philip dachte daran, dass es ein regelrechter Schock für ihn gewesen war, als er gemerkt hatte, wie reizend Carrie war. “Im Gegenteil.”
“Du solltest dich glücklich schätzen. Sie ist offenbar ein Geschenk des Himmels. Ich kenne eine Menge Männer, die würden viel darum geben, wenn ihre Kinder einer neuen Frau so offen begegnen würden. Denk nur an Cal. Seine Tochter und seine zweite Frau hassen sich abgrundtief. Cal leidet sehr darunter.”
“Ich bin aber nicht Cal.”
“Ich finde, du solltest dich mit deiner Nachbarin ruhig ein bisschen anfreunden, wenn deine Tochter sie so gern hat. Finde heraus, was Mackenzie an ihr mag. Ich bin zwar kein Fachmann für Beziehungen, aber …”
“Allerdings”, sagte Philip ein wenig spitz. Er war ins Büro gegangen, um Carrie zu entkommen, nicht, um sich mit seinem Freund über sie zu unterhalten. “Doch ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen.”
Gene lachte. “Das bezweifle ich. Aber ich finde es trotzdem nicht gut, wenn du so kurz vor Weihnachten hier im Büro herumhängst. Wenn du dich verkriechen willst, dann gibt es wahrhaftig angenehmere Möglichkeiten als gerade hier.”
Das war zwar durchaus freundlich gemeint, aber Philip ärgerte sich trotzdem. Er presste die Lippen zusammen, um nicht etwas zu entgegnen, was er später doch nur bereuen würde. Ausgerechnet Gene musste ihm gute Ratschläge erteilen. Schließlich gehörte ihm das Haus, in dem er jetzt wohnte, und nur Gene war Schuld daran, dass er Carrie überhaupt kennen gelernt hatte. Ohne seinen Freund wäre das alles nicht passiert.
“Wie auch immer. Ich muss los. Meine Frau wartet unten im Auto. Du weißt ja, wie das am letzten Wochenende vor Weihnachten ist. Die Stadt ist das reinste Tollhaus, aber Marilyn findet, jetzt sei der ideale Zeitpunkt, um die letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Und allein schafft sie das angeblich nicht. Anschließend werde ich mich um die Auszeichnung ‚Ehemann des Jahres’ bewerben.” Gene lachte. “Immerhin hat sie mir eine Belohnung versprochen.” Er sah aus wie ein kleiner Junge vor der Bescherung.
“Bis dann”, sagte Philip. “Und viel Spaß.”
“Danke. Versprich mir, dass du nicht zu lange hier bleibst”, meinte Gene dann noch.
“Versprochen.”
Gene ging, und Philip blieb allein zurück. Er fühlte sich einsamer denn je. Sein Freund hatte Recht. Um diese Zeit des Jahres verkroch man sich nicht in seine Arbeit. Das tat er ohnehin schon viel zu lange. Während Gene mit
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