Silberhuf
aufzurichten, fiel er wieder in Ohnmacht. Aber er war sofort wieder bei Besinnung und tastete zuerst seinen Arm ab, bevor er mit schmerzverzerrtem Lächeln zu mir hochschaute.
„Ausgekugelter Ellbogen“, sagte er, „wo ist der Schneemensch?“
„Weg!“
Ich möchte lieber nicht wiederholen, was er dann sagte.
Es kam nur selten vor, daß Vater mich derart beschimpfte. Er beruhigte sich jedoch gleich wieder und versuchte aufzustehen.
„Wie, zum Teufel, soll ich hier herauskommen, mit diesem Arm? Irgendwie muß ich das Gelenk in seine Kapsel zurückbefördern.“
Er dachte eine Weile nach.
„Geh und hole einen Eishaken aus der Satteltasche, und beeil dich.“
Eishaken sind scharfe Stahlspitzen, an denen vorne ein Ring befestigt ist. Ich knotete das Seilende mit Hilfe einer Buline durch den Ring ganz fest und trieb den Eishaken ein paar Meter von der Kante der Gletscherspalte entfernt mit der Axt insEis. Silberhuf stellte einen Fuß drauf, um zu verhindern, daß der Eishaken herausgerissen wurde, während ich mich am Seil festhielt, wieder nach vorne kroch und das Seil nach unten warf.
Vater fing es mit seiner gesunden Hand auf und knotete um sein Handgelenk einen Schifferknoten. Es war der linke Arm, er war völlig verunstaltet. Ich mußte wegsehen.
Als er sein ganzes Gewicht auf den ausgekugelten Arm verlagerte, zuckte ich für ihn zusammen. Seine Zähne waren entblößt, und sogar von oben konnte ich die Tränen sehen, die vor Schmerzen aus seinen halbgeschlossenen Augen herunterliefen. Er bearbeitete den ausgestreckten Arm, um das Gelenk in seinen Platz zurückzudrücken. Plötzlich machte es kurz „klick“ in seinem Arm, und das Gelenk saß wieder da, wo es hingehörte. Er gab nur einen Stoßseufzer von sich, danach wurde ihm schlecht.
Ich fragte, ob ich hinuntersteigen sollte, um ihm zu helfen. Aber er antwortete kurz und bündig: „Ein Idiot hier unten ist genug. Laß die Whiskyflasche runter und ein bißchen Schokolade. Ich werde dem Arm jetzt ein wenig Ruhe gönnen und dann versuchen, hier herauszuklettern.“
Nach einer Weile sagte er: „O. K., ich werde eine Buline um meine Schultern knoten und Stufen hauen. Während ich hochsteige, holst du das Seil durch den Ring ein, damit es straff bleibt. Und halte die Augen auf nach dem Schneemenschen.“
Ich hörte ihn mit der Axt arbeiten, und dann rief Vater: „Jetzt“, und ich zog das schlaff hängende Seil um etwa dreißig Zentimeter ein. Aber ausgerechnet in dem Moment, als Vater wieder zu hacken anfing, glitt mir das Seil aus den Fingern und kräuselte sich über die Kante der Eisspalte nach unten.
Er ließ eine Auslese seiner schönsten Schimpfworte auf michlos, war aber durch den zweiten Stoß anscheinend nicht verletzt. In Wirklichkeit war an dem Eishaken eine fehlerhafte Schweißstelle. Ich ließ den Haken deshalb herabfallen, damit er sich selbst davon überzeugen konnte. Er hörte auch gleich auf, mich zu beschimpfen, und fing an, die Hersteller der Eishaken zu verfluchen. Doch es half alles nichts. Das Seil war gefroren, steif und schwer zu handhaben, so daß er es nicht zu mir zurückwerfen konnte.
„Jetzt sitzen wir wirklich in der Patsche“, hörte ich ihn sagen. Es klang verdammt ernst. „Hier unten ist es kalt, also was tun wir?“
Silberhuf beantwortete Vaters wohl nur rethorisch gemeinte Frage.
„Mit den Tatsachen, die zu Gebote stehen, erscheint es notwendig zu sein, daß Jack und ich zurückeilen und das andere Seil holen.“
Unten herrschte tiefes Schweigen. Dann sagte Vater mit gefaßter Stimme: „Du hast recht, Silberhuf. Mit beiden Seilen können wir eine Strickleiter machen, und ich werde im Nu draußen sein. Aber beeilt euch, es ist kalt, und wenn dir nichts an einem tiefgefrorenen Vater liegt, Jack, macht euch auf die Socken. Wirf meinen Schlafsack runter.“
Ich warf beide nach unten und verärgerte ihn erneut. Aber wie hätte ich schlafen können, solange er dort unten lag?
Achtes Kapitel
Silberhuf führte mich, ohne vom Weg abzuweichen, denn seine Geräte hatten natürlich alles aufgezeichnet. Wir hatten schon den halben Weg zu der Eisspalte, das zweite Seil in derTasche, zurückgelegt. Es war ein märchenhafter Anblick, weiße, vom Mondlicht beleuchtete Wolken, die unter uns hinwegzogen, bis sie sich im tiefsten Indigoblau des Himmels verloren, und Sterne mit einem strahlenden blauen Schimmer, wie man sie niemals in Gegenden dicht über dem Meeresspiegel zu Gesicht bekommt. Und aus den wogenden,
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