Silberhuf
größere Übel. Ich schütteltedaher nur mit dem Kopf, weil ich meiner eignen Stimme nicht traute.
Silberhuf flüsterte eindringlich: „Da ist es wieder. Es bewegt sich immer noch fort von uns, dort, ein bißchen weiter weg.“
Vater eilte hinter Silberhuf her, und ich folgte ihnen. Seltsamerweise war ich auf einmal ganz ruhig und gar nicht sehr ängstlich. Wenn es wirklich ein Jeti war, dann würden Vater und ich in die Geschichte eingehen. Mir schwebte ein großer Käfig im Londoner Zoo vor Augen mit einem Schild dran: „Anthropus Himalaja Nortonius“, entdeckt von Mike Norton und seinem Sohn Jack Norton. Aber vielleicht war es unpassend, einen Menschen in den Zoo einzusperren. Und wenn es nun eine Lady Schneemensch wäre, würde man sie Schneefrau nennen?
Plötzlich rumste ich gegen Silberhuf, und mein Gewehr krachte mit lautem Geklirr gegen seine Flanke.
Vater blickte sich ärgerlich um, und plötzlich war er in einem mächtigen Schneegestöber verschwunden.
„Geh zurück“, sagte Silberhuf.
Ich tappte ein Stückchen rückwärts und er auch. Von Vater war weit und breit keine Spur.
Ich wollte absichtlich nicht laut rufen. Das würde womöglich den Jeti verjagen — oder vielleicht war es ein großer Bär?
Ich konnte sowieso durch die Wolke keine Handbreit weit sehen.
Dafür konnte Silberhuf sehen, und er wisperte: „Da ist ein Loch im Schnee, und dein Vater ist dort hinuntergestürzt.“
Ich stürmte vorwärts, aber das Pferd redete weiter: „Sei vorsichtig, sonst wirst du ebenfalls hinunterfallen.“
Unser einziges Seil war in Sekunden um meine Hüfte geschlungen — das andere war in der Höhle. Ich flüsterte Silberhufzu, er solle ganz fest stehen, und dann knotete ich eine Buline um meine Taille. In diesem Augenblick war ich dankbar, daß Vater mir etwas von Knoten und Spleißen beigebracht hatte. Dann ließ ich das dünne Nylonseil hinter den Vorderfüßen des Pferdes entlanggleiten und zog das freie Ende durch die Schlinge der Buline.
„Kannst du das Wesen noch sehen?“
„Es zieht noch immer vor uns her“, sagte das Pferd.
Flach auf dem Bauch schob ich mich zentimeterweise vorwärts. Dabei ließ ich das Seil langsam durch meine Händegleiten, um es zwischen mir und dem Pferd stramm zu halten, bis ich die Stelle erreichte, wo Vater verschwunden war.
Es war ein schmaler Spalt zwischen zwei Gletscherwänden, und der Treibschnee hatte darüber eine Art Brücke angeweht, die so lange hielt, bis Vater mit seinem Gewicht eingebrochen war. Aber wegen dieser albernen Wolke konnte ich nicht sehen, wie tief der Spalt war. Von Vater war keine Spur. Allmählich fing ich an, vor Angst zu schluchzen. Einige dieser Gletscherspalten sind sehr tief. Ich erinnerte mich an Geschichten von Leuten, die in solche Spalten gestürzt waren und erst nach Jahren tiefgefroren und tadellos erhalten am Fuße des Gletschers wieder zum Vorschein kamen.
„Vater“, rief ich laut.
Aus dem Nebel da unten drang kein Laut nach oben. Ich kroch zu dem Pferd zurück, wimmernd vor Angst und doppelt verstört, weil ich es war, der Vater abgelenkt hatte, auf den Weg zu achten, als ich mit Silberhuf zusammenstieß.
Das Pferd war so ruhig wie immer. „Es ist sinnlos für mich, es mit dem Radargerät zu versuchen“, sagte er, nachdem ich ihm von dem Riß im Eis berichtet hatte. „Womöglich würde ich auf ihn drauffallen.“
„Wo ist das komische Wesen jetzt?“
„Ich kann es nicht sehen.“
Ich heulte wie ein Schloßhund. Selbst wenn Vater nur bewußtlos war, bei der Kälte konnte er nicht lange am Leben bleiben. Und dann stand ich da, ganz allein in dieser Einöde der Himalaja-Gebirge, alleine, um es mit Schneemenschen, Banditen, Schneeleoparden und wilden Yaks aufzunehmen.
Innerhalb einer Sekunde schien auf einmal wieder die Sonne, der Wind blies die Wolke weg, und der Schnee fing an zu glitzern.
Ich sah zwar die großen Fußtapsen, die von uns wegführten, aber ringsherum kein lebendes Wesen weit und breit.
Als ich das zweite Mal über die Kante der Gletscherspalte nach unten spähte, sah ich Vater mit dem Gesicht nach oben, etwa fünfzehn Meter tief, im Schnee liegen. Ein Arm war unnatürlich unter ihm gekrümmt. Er bewegte sich nicht. Ich rief ihn an, aber es kam keine Antwort. Ich machte Schneebälle und zielte auf ihn. Nach dem dritten Versuch fiel eine Handvoll Schnee auf sein Gesicht. Er fing an sich zu regen und zu stöhnen. Als er versuchte, sich auf den verletzten Arm zu stützen, um sich
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