Silberlicht
geöffnet.
»Ich habe keine Ahnung, wo wir hinfahren«, sagte James. Im nächsten Moment kam Mitch mit einem Strauß rosafarbener Nelken zurück.
»Es geht wohl zum Grab seiner Mutter«, flüsterte James.
Mitch setzte sich mit angespanntem Gesichtsausdruck hinters Steuer und warf die Blumen auf den Sitz neben ihm.
»Schöne Farbe«, bemerkte James.
Aus irgendeinem Grund musste Mitch lachen. Ein paar Blocks später bogen wir auf den Parkplatz eines Apartmentgebäudes ein, wo eine strahlende, sommersprossige Frau von vielleicht fünfzig Jahren auf einer Betonmauer saß und uns zuwinkte. Sie hatte eine Krücke und eine Einkaufstasche bei sich.
»Tante Verna«, sagte James, der immer noch bemüht war, sich die fehlenden Informationen zusammenzusuchen.
»Tante?« Mitch warf ihm einen verärgerten Blick zu.
James beobachtete, wie die Frau auf uns zuhinkte und sich auf die Krücke stützte. »War sie nicht Moms beste Freundin?«, fragte er.
»Müssen wir darüber reden?« Mitch griff nach hinten, um die Tür zum Rücksitz zu öffnen.
»Hallo, Jungs.« Verna stieg ein und lehnte sich vor, um James’ Gesicht besser sehen zu können. »Du siehst gut aus«, sagte sie lächelnd.
Mitch reihte sich in den Verkehr ein. Die Frau hatte auf dem Sitz neben mir Platz genommen und schnallte sich an. Sie trug ihr kastanienbraunes und graues Haar in einem Pferdeschwanz und war gekleidet wie ein Malermeister.
»Wie geht es dir, Mitch?«, fragte sie.
»Ich komme klar«, erwiderte er.
Als eine großangelegte Grasfläche mit Grabsteinen zu unserer Rechten auftauchte, versteifte sich James. Seine Augen zuckten über Gräberreihen, während Mitch am Friedhofseingang vorbeifuhr. Er steuerte auf den Parkplatz hinter dem County Hospital zu, wo ein Schild verkündete:
St. Jude’s.
Das Krankenhaus war ein trister Betonklotz, daran konnten auch die bunten Blumen neben dem Eingang nichts ändern.
James sah verwirrt aus, Mitch krank und die Frau recht fröhlich, als sei sie auf dem Weg zu einer Party. Wir parkten auf dem Besucherparkplatz, und ich folgte den dreien zum Eingang. Höflich passten die Jungs ihren Schritt an den ihrer Begleiterin an.
»Billy, könntest du das bitte tragen?«
James nahm ihr die Tasche ab, so dass sie sich mit zwei Händen auf die Krücke stützen konnte. Als wir durch die Glastüren getreten waren, gingen Mitch und die Frau schnurstracks zur Rezeption und hinterließen ihre Unterschriften auf einem Klemmbrett.
»Guten Morgen, Karen«, sagte Verna.
Die junge Frau am Empfang lächelte. »Wie geht’s dem Knie, Verna?«
»Könnte schlimmer sein.«
Ich schwebte hinter James her. »Vielleicht ist Billys Mutter gar nicht tot«, sagte er. Das klang hoffnungsvoll, doch ich konnte die düstere Vorahnung in seiner Stimme hören.
Mitch folgte Verna durch die Eingangshalle nach links.
»Beeil dich.« Ungehalten wedelte er mit dem Strauß, Blütenblätter fielen herab.
James schritt zum Empfangstresen, nahm den Stift, der mit einer dünnen Kette an dem Klemmbrett befestigt war, und unterzeichnete direkt unter Mitchs Namen. »William Blake.«
Ich sah, dass Karen, die junge Frau hinter dem Tresen, ein Buch unter einer Aktenmappe verbarg. Keine Krankenhausunterlagen, sondern ein eselsohriger Roman mit einer abgeknickten Ecke als Lesezeichen. Einen verwirrenden Augenblick lang sah ich meine eigenen Hände braunes Packpapier von einem blauen Buch reißen, als hielte ich das Warten keine Sekunde länger aus. So schnell, wie die Vision gekommen war, war sie wieder verschwunden.
Wir folgten Mitch den Gang hinunter. Auch James’ Gesicht trug nun denselben kranken Ausdruck wie das seines Bruders. Durch eine weiße Tür kamen wir in ein keimfrei wirkendes Zimmer, in dem eine Frau bewegungslos auf ihrem Krankenbett saß. Der Stoff ihres Nachthemds war mit kleinen Eiffeltürmen bedruckt. Mitch legte die Blumen auf einem Tablett neben der Kranken ab und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, so weit wie möglich vom Bett entfernt. Verna küsste die blicklos starrende Frau und entfernte gleich darauf den Lippenstift von ihrer Wange, den einzigen Farbtupfer in der Bleiche des Gesichts.
»Hallo, Sarah«, sagte sie.
James stand im Türrahmen.
»Wir sind alle hier, Süße: Mitch, Billy und Verna.« Verna zog einen Stuhl neben die Metallgriffe des Krankenhausbettes und ergriff Sarahs schlaffe Hand. Deren Nägel waren kurz geschnitten, am Ringfinger steckte ein Ehering.
»Ich habe dir ein paar Überraschungen
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