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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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ihrem Körper.«
    Die Vorstellung einer solchen Hölle jagte mir einen unsagbaren Schrecken ein. »Ohne sprechen oder sich bewegen zu können?«
    Als wir an dem Friedhof vorbeifuhren, hielten die vorbeiziehenden Grabsteine seine Augen gefangen wie das schwingende Pendel eines Hypnotiseurs. »Sieben«, flüsterte er.
    »Sieben was?«, fragte ich zurück.
    »Geister auf dem Friedhof.«
    »Wie bitte?«, fragte Verna.
    »Nichts«, erwiderte James.
    Als Verna ausstieg, bot James ihr seinen Arm an. »Soll ich dich zur Tür bringen?«, fragte er.
    Sie sah ihn verwirrt an. »Nein danke, das schaffe ich schon.«
    James ließ sich auf den Vordersitz fallen. Ich blieb auf der Rückbank.
    »Bye!« Verna winkte, doch das Auto entfernte sich, bevor James antworten konnte.
    »Okay«, seufzte Mitch. »Mach mir ’ne Zigarette an.«
     
    Zurück in der Amelia Street tat James so, als würde er fernsehen, während sein Bruder den Sportteil der Zeitung las. Als Mitch sich seine Jacke überstreifte und nach den Autoschlüsseln griff, um zur Arbeit zu fahren, sagte James:
    »Kann ich spazieren gehen, wenn ich brav bleibe?«
    »Schätze schon.«
    »Und da ich ja an einer Gehirnverletzung oder irgend so was leide«, fuhr James fort, »solltest du mich bitte daran erinnern, wie lange ich Hausarrest habe.«
    »Sag ich dir noch«, knurrte Mitch zum Abschied.
     
    Ich saß James am Küchentisch gegenüber und sah ihm zu, wie er ein Erdnussbuttersandwich verspeiste.
    »Ich habe mich immer gefragt, wie das wohl schmeckt«, bemerkte ich.
    »Okay, dann weiß ich, was du zu Weihnachten bekommst.« Er trank ein Glas Orangensaft und sagte: »Lass uns jagen gehen.«
    »Wo?«
    »Na da, wo die Menschen an einem Sonntagnachmittag im September halt so rumlaufen«, antwortete er. »Im Einkaufszentrum.«
     
    Es war ein seltsames Gefühl, James zu folgen, während er Fahrrad fuhr. Ab und zu blickte er kurz zu mir herüber, konzentrierte sich dann aber lieber aufs Fahren. Nach unserer Ankunft im Einkaufszentrum befestigte er sein Fahrrad an einem Ständer, und wir spazierten in den riesigen Schlund. Eine wahre Menschenmasse nahm uns in Empfang, der Lärm war ohrenbetäubend. Darunter mischte sich Musik, die in verwirrenden Wellen aus den Läden dröhnte. Mr. Brown hasste Shopping, weshalb ich schon seit einigen Jahren nicht mehr an so einem Ort gewesen war.
    James bewegte sich langsam gegen den Strom, wie ein Tier auf der Jagd. Ich verlor mich im Fluss der zahllosen Gesichter, die an uns vorbeihasteten: faltige, mit Brillengläsern dick wie Flaschenböden, bärtige mit verspiegelten Sonnenbrillen, Gesichter mit blauen Augenlidern und Ringen in den Nasen, pickelige mit Zahnspangen und halb von Plastikschnullern verdeckte Babymünder. Die Bilder waberten um mich herum wie eine fremde Sprache. Wir durchliefen die riesige Mall dreimal bis zum Ende und zurück. James setzte sich auf einen steinernen Klotz, den die Leute als Aschenbecher zu missbrauchen schienen, und beobachtete eine Schar Jugendlicher, die sich zum Essen um einen kleinen Tisch versammelt hatte. Schließlich stand er auf und setzte sich wieder in Bewegung, wobei er bewusst gegen den Strom der Leute anmarschierte. Ich war viel ruhiger als in der Nacht zuvor. Es erschien so weit hergeholt, einen verlassenen Körper aufzutreiben, dass ich eigentlich nichts zu fürchten hatte. Es würde Tage dauern, jemanden zu finden, den wir retten konnten.
    »Die da«, flüsterte James.
    Neben dem Eingang zu einem großen Geschäft kniete eine ungefähr dreißigjährige Frau, die gerade dabei war, ihren Joggingschuh zuzubinden. Fransiges braunes Haar bedeckte ihr Gesicht; sie trug eine Trainingshose und eine Kapuzenjacke. Ich versteckte mich hinter James, als er langsam auf sie zuging.
    »Ist sie leer?«
    »Horch«, flüsterte er. »Hörst du es nicht?«
    Als sie aufstand, offenbarte das zurückfallende Haar ein dünnes Gesicht mit einem angespannten Zug um den Mund. Sie ging in den Laden, wir folgten ihr in drei Schritten Abstand. Nach einigen Sekunden nahm ich tatsächlich ein kaum vernehmbares Summen wahr, das jedoch genauso gut von den Lichtern der Schmuckvitrine hätte stammen können.
    »Was soll ich tun?« Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
    »Halte dich an ihr fest«, wisperte James. »Und wenn sie allein ist, schlüpfe in sie hinein.«
    Mein Geist wollte sich an niemand anderem als an James festhalten. Und doch schien ein menschlicher Körper die einzige Möglichkeit, endlich richtig bei ihm zu

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