Silberlinge
dass ich Ihnen zweimal das Leben gerettet habe.«
»Das ist mir durchaus klar«, sagte sie. Es schien, als starrte sie durch mich hindurch. »Das ist schwer zu fassen, obwohl es doch passiert ist. Es kommt mir… völlig verrückt vor. Wie ein Traum.«
»Sie sind nicht verrückt«, erwiderte ich, »und Sie haben auch nicht halluziniert oder so.«
Valmont lachte leise. »Ich weiß. Cisca und Gaston sind tot. Die beiden waren meine Freunde.« Ihre Stimme brach, und sie blinzelte heftig. »Ich wollte die Sache zu Ende bringen, damit sie nicht umsonst gestorben sind. Das war ich ihnen schuldig.«
Ich seufzte. »Hören Sie, ich will es Ihnen leichtmachen. War es Marcone?«
Sie zuckte mit den Achseln, ohne mich anzusehen. »Es ist anfangs über einen Mittelsmann gelaufen, deshalb kann ich das nicht sicher sagen.«
»Aber es war Marcone?«
Valmont nickte. »Das vermute ich. Der Käufer war jedenfalls jemand mit viel Geld und Einfluss.«
»Ist ihm klar, dass Sie es wussten?«
»Es wäre unhöflich, einem Käufer, der anonym bleiben will, zu sagen, dass man seine Identität kennt.«
»Wenn Sie überhaupt irgendetwas über Marcone wissen, dann müssten Sie inzwischen begriffen haben, dass er Sie nicht mit dem Geld verschwinden lässt, ohne die Ware zu bekommen«, erklärte ich.
Sie rieb sich die Augen. »Ich werde ihm anbieten, das Geld zurückzuzahlen.«
»Gute Idee. Vorausgesetzt, er bringt Sie nicht um, bevor Sie das Angebot formuliert haben.«
Wütend und weinend starrte sie mich einen Augenblick an. »Was wollen Sie von mir?«
Hinter einem Stapel gelber Baumwolle entdeckte ich eine Packung Kosmetiktücher. Ich bot sie ihr an. »Informationen. Ich will alles wissen. Gut möglich, dass Sie etwas gesehen oder gehört haben, das mir hilft, das Grabtuch zu finden. Wenn Sie mich unterstützen, kann ich Ihnen vielleicht einen Vorsprung verschaffen, damit Sie die Stadt verlassen können.«
Sie nahm ein Tuch aus der Schachtel und tupfte sich die Augen trocken. »Woher weiß ich, dass Sie Ihr Versprechen halten werden?«
»Immerhin habe ich Ihnen zweimal das Leben gerettet. Daraus können Sie schließen, dass ich Ihnen nichts Böses will.«
Sie senkte den Blick und nagte an der Unterlippe. »Ich… ich weiß nicht.«
»Sie müssen sich jetzt gleich entscheiden.«
»Also gut.« Sie atmete bebend ein. »Na schön. Ich will mich nur etwas frisch machen und anziehen, und dann sage ich Ihnen alles, was ich weiß.«
»Wunderbar«, stimmte ich zu. »Kommen Sie mit, da hinten im Flur ist ein Bad mit einer Dusche. Ich besorge Ihnen Handtücher und was Sie sonst noch brauchen.«
»Ist das Ihr Haus?«
»Es gehört Freunden, aber ich habe auch schon hier übernachtet.«
Sie nickte und fummelte ein wenig herum, bis sie das schwarze T-Shirt angezogen hatte, das sie am vergangenen Abend getragen hatte. Sie hatte lange und hübsche, allerdings ramponierte Beine. Als sie den rechten Fuß auf den Boden stellte, stieß sie einen Schrei aus und stürzte nach vorn. Ich fing sie auf, bevor sie auf den Boden prallte, woraufhin sie sich gegen mich lehnte und den rechten Fuß hob.
»Verdammt«, keuchte sie. »Anscheinend habe ich mir gestern Abend den Fuß verstaucht.« Dann warf sie mir einen finsteren Blick zu. »Finger weg.«
Abrupt zog ich die Hand von etwas zurück, das sich angenehm glatt und fest angefühlt hatte. »Entschuldigung, das war ein Versehen. Kommen Sie klar?«
Sie balancierte auf einem Bein und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Stützen Sie mich doch noch einen Moment.«
Ich half ihr, durch den Flur ins Bad zu humpeln, holte Handtücher aus dem Wäscheschrank und schob sie ihr durch die nur einen Spaltbreit geöffnete Tür hinein. Sie schloss hinter sich ab und drehte die Dusche auf.
Kopfschüttelnd entfernte ich mich und wählte unterwegs Vater Vincents Nummer. Beim fünften Schellen meldete er sich. Er klang müde und gestresst. »Vincent.«
»Harry Dresden hier«, sagte ich. »Ich weiß, warum das Grabtuch nach Chicago gekommen ist und wer es kaufen wollte. Allerdings hat eine dritte Partei die Abwicklung gestört, und in deren Besitz befindet sich das Objekt jetzt.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Vincent.
»Ja.«
»Wissen Sie tatsächlich, wo es ist?«
»Nicht genau, aber das werde ich sicher bald herausfinden. Heute Abend oder vielleicht schon früher.«
»Warum dauert es bis heute Abend?«, wollte er wissen.
»Weil, äh, das ist schwer zu erklären.«
»Vielleicht sollte sich von jetzt an
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