Silberlinge
verstehst.« Er hustete und verzog gequält das Gesicht. »Irgendwann wirst du es verstehen. Ganz bestimmt.« Sein Arm neben dem Schwert zuckte. »Nimm es. Nimm es an dich, mein Junge.«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin nicht wie du. Und auch nicht wie ihr alle. Das werde ich nie sein.«
»Vergiss nicht, Gott sieht den Menschen ins Herz. Jetzt blicke ich in deines. Nimm das Schwert und behüte es, bis du denjenigen findest, dem es gehört.«
Ich nahm den Schwertstock. »Woher weiß ich, wem ich es geben soll?«
»Das wirst du spüren«, erwiderte Shiro schwach. »Vertrau deinem Herzen.«
Nun kam auch Sanya herein und stellte sich zu uns. »Die Polizei hat die Schüsse gehört, ein Einsatzkommando ist schon unterwegs…« Er starrte Shiro an.
»Sanya«, sagte Shiro. »Dies ist unser Abschied, mein Freund. Ich bin stolz auf dich.«
Sanya schluckte und kniete neben dem alten Mann nieder, um Shiro die Stirn zu küssen. Seine Lippen waren blutig, als er sich wieder aufrichtete.
»Michael«, fuhr Shiro fort. »Der Kampf ist jetzt deine Angelegenheit. Sei weise.«
Michael legte Shiro die Hand auf den kahlen Schädel und nickte. Der große Mann weinte und lächelte traurig.
»Harry«, flüsterte Shiro, »Nikodemus hat Angst vor dir. Er hat Angst, dass du etwas gesehen haben könntest. Ich weiß allerdings nicht, was es war.«
»Er sollte auch Angst haben«, stimmte ich zu. »Nein«, beharrte der alte Mann. »Lass dich nicht von ihm verwirren. Du musst ihn finden und ihm das Grabtuch abnehmen. Solange er es in Händen hält, greift die Seuche um sich. Sobald er es verliert, ist sie zu Ende.«
»Wir wissen nicht, wo er ist«, sagte ich.
»Im Zug«, flüsterte Shiro. »Sein Notfallplan. Er fährt mit dem Zug nach St. Louis.«
»Woher weißt du das?«, fragte Michael.
»Er hat es seiner Tochter gesagt, als er dachte, ich sei tot.« Shiro konzentrierte sich auf mich. »Halte sie auf.«
Meine Kehle wurde eng, ich nickte und quetschte etwas wie »Danke« heraus.
»Du wirst es verstehen«, sagte Shiro. »Bald schon.«
Dann seufzte er wie ein Mann, der gerade eine schwere Last abgelegt hatte, und schloss das verbliebene Auge.
Shiro war tot. Es war nicht schön und nicht würdevoll. Sie hatten ihn misshandelt und auf grausame Weise getötet, und er hatte es an meiner Stelle über sich ergehen lassen.
Doch im Tod umspielte ein zartes, zufriedenes Lächeln seine Lippen. Vielleicht war es das Lächeln eines Menschen, der sich treu geblieben war, ohne zu schwanken. Jemand, der einer großen Sache gedient und bereitwillig, wenn nicht gar freudig, sein Leben dafür gegeben hatte.
»Wir müssen gehen«, drängte Sanya mit gepresster Stimme. Ich richtete mich auf und schlang mir den Schwertstock über die Schulter. Ich fröstelte und schauderte und legte prüfend eine Hand auf meine feuchtkalte Stirn. Die Seuche.
»Ja«, sagte ich und marschierte zur Treppe hinaus. »Die Zeit läuft uns davon.«
»Wohin gehen wir?« Michael und Sanya waren mir gefolgt. »Aufs Vorfeld«, sagte ich. »Er ist klug und wird es sich zusammengereimt haben. Er müsste dort sein.«
»Wer?«, fragte Michael.
Ich antwortete ihm nicht, sondern führte die beiden durch die Garage aufs Vorfeld hinaus. Draußen eilten wir am Terminal entlang, bis wir den weiten Bereich der Landebahnen vor uns sahen. Als wir im Freien standen, holte ich meinen Drudenfuß heraus, hielt ihn hoch und konzentrierte mich, bis er einen hellen blauen Lichtschein abstrahlte.
»Was machst du da?«, fragte Sanya.
»Ich gebe ein Signal.«
»Wem denn?«
»Unserer Mitfahrgelegenheit.«
Es dauerte höchstens fünfundvierzig Sekunden, bis sich ein Hubschrauber näherte. Die blau und weiß lackierte Privatmaschine schwebte kurz über uns und landete dann eilig, aber präzise.
»Kommt schon«, rief ich den beiden zu. Von innen schob jemand die Tür auf, und ich stieg mit Michael und Sanya ein. Gentleman Johnny Marcone trug einen dunklen Kampfanzug. Er nickte mir und den beiden Rittern zu. »Guten Abend, meine Herren. Sagen Sie mir einfach, wohin ich Sie bringen soll.«
»Nach Südwesten«, überbrüllte ich den Motorenlärm. »Sie fahren mit dem Zug nach St. Louis.«
Michael starrte Marcone schockiert an. »Das ist doch der Mann, der den Diebstahl des Grabtuchs befohlen hat. Glaubst du wirklich, er arbeitet mit uns zusammen?«
»Sicher«, sagte ich. »Wenn Nikodemus mit dem Grabtuch verschwindet und ungehindert seinen großen Fluch loslässt, hat Marcone all das Geld für
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