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Silberlinge

Silberlinge

Titel: Silberlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim Butcher
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war.
    Er lag auf dem Rücken und hatte kein Hemd an. Am Hals war die Haut zerfetzt, und er hatte üble dunkle Quetschungen, von denen einige den Umriss von Ketten hatten. Seine Hände und Füße waren grotesk angeschwollen und so schlimm und so oft gebrochen, dass sie kaum noch als menschliche Körperteile erkennbar waren. Sein Bauch und die Brust waren aufgeschlitzt, wie ich es schon bei Vater Vincent und Gaston LaRouche gesehen hatte.
    »So viel Blut«, flüsterte ich.
    Michael kam hinter mir herein und gab einen leisen, erstickten Laut von sich.
    Ich trat näher an Shiros Überreste heran und registrierte mit klinischer Distanz einige Einzelheiten. Sein Gesicht war mehr oder weniger unberührt, rings um ihn waren einige Gegenstände verstreut – offenbar die Requisiten eines Rituals. Wozu sie ihn auch benutzt hatten, sie waren fertig. Seine Haut wies zahlreiche wunde Stellen auf, wahrscheinlich Fiebermale, überlegte ich, und sein Hals war geschwollen. Vermutlich verbargen die Verletzungen noch viele weitere Symptome der Pestilenz.
    »Wir kommen zu spät«, sagte Michael leise. »Haben sie den Spruch schon gewirkt?«
    »Ja«, sagte ich. Ich setzte mich in den ersten Betstuhl.
    »Harry?«, drängte Michael mich.
    »So viel Blut«, sagte ich. »Er war nicht sehr groß. Es kann nicht alles von ihm sein.«
    »Wir können hier nichts mehr tun.«
    »Ich kannte ihn, er war nicht sehr groß. Er hatte nicht genug Blut für all diese Zeichnungen und das Ritual.«
    »Wir müssen gehen«, sagte Michael.
    »Was dann? Die Seuche ist freigesetzt, wahrscheinlich sind wir bereits infiziert. Wenn wir hinausgehen, verbreiten wir sie nur weiter. Nikodemus hat das Grabtuch und sucht wahrscheinlich irgendwo einen Schulbus oder so. Er ist fort. Wir haben ihn verpasst.«
    »Harry«, beharrte Michael, »wir dürfen…«
    »Wenn du mir jetzt wieder was vom Glauben erzählst, bringe ich dich um«, platzte ich heraus.
    »Das ist nicht dein Ernst«, widersprach Michael. »Ich kenne dich, so bist du nicht.«
    »Halt den Mund.«
    Er trat zu mir und lehnte Shiros Stock an mein Knie, dann zog er sich ohne ein weiteres Wort bis zur Wand zurück und wartete.
    Ich nahm den Stock und zog den Holzgriff heraus, bis ich eine Handbreit des glänzenden, sauberen Metalls sehen konnte. Dann schob ich die Waffe wieder in die Scheide, ging zu Shiro und legte ihn und sein Schwert zurecht, so gut es ging.
    Als er hustete und keuchte, hätte ich fast aufgeschrien.
    Ich hätte nie gedacht, dass jemand solche Misshandlungen überleben konnte. Doch Shiro atmete flatternd ein und öffnete zögernd ein Auge. Das zweite hatten sie ihm herausgerissen, das Augenlid lag seltsam eingesunken über der leeren Höhle.
    »Bei den Toren der Hölle«, stammelte ich. »Michael!«
    Er kam zu mir, und nach einem Moment konnte Shiro uns mit seinem verbliebenen Auge erkennen. »Ah, gut«, krächzte er. »Ich bin es leid, auf euch zu warten.«
    »Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte ich.
    Der alte Mann zuckte leicht mit dem Kopf. »Es ist zu spät. Das nützt nichts mehr. Die Schlinge. Der Fluch des Barabbas.«
    »Was meint er damit?«, fragte ich Michael.
    »Solange Nikodemus seine Schlinge trägt, kann er anscheinend nicht sterben. Wir glauben, es ist die Schlinge, die Judas benutzt hat«, erklärte Michael leise.
    »Was ist der Fluch des Barabbas?«
    »Die Römer haben den Juden damals erlaubt, jedes Jahr einen verurteilten Sträfling zu verschonen. Die Schlinge ermöglicht es Nikodemus, einen Tod zu gebieten, dem niemand entkommen kann. Barabbas war der Gefangene, dem die Juden den Vorzug gaben, obwohl Pilatus den Erlöser freilassen wollte. Nach ihm ist der Fluch benannt.«
    »Hat Nikodemus diesen Fluch gegen Shiro eingesetzt?«
    Wieder zuckte Shiros Kopf, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Nein, mein Junge. Gegen dich. Er war wütend, weil du trotz seiner Hinterlist entkommen bist.«
    Bei den Toren der Hölle – der Entropiefluch, der beinahe Susan und mich getötet hatte. Ich starrte erst Shiro und dann Michael fassungslos an.
    Mein Freund nickte. »Wir können den Fluch nicht aufhalten«, sagte er, »aber wir können uns, wenn wir wollen, als sein Ziel anbieten. Deshalb wollten wir dich aus der Sache heraushalten, Harry. Wir hatten Angst, Nikodemus würde dich aufs Korn nehmen.«
    Mir schossen die Tränen in die Augen. »Dann hätte ich statt seiner hier liegen sollen, verdammt.«
    »Nein«, meinte Shiro. »Es gibt vieles, was du nicht

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