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Silberlinge

Silberlinge

Titel: Silberlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim Butcher
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Magen, und ich atmete langsam und tief durch, um den Brechreiz zu unterdrücken. Ein paar Sekunden lang schloss ich die Augen und zwang mich, wieder ruhig zu werden. Nicht nachdenken, Harry. Sieh es dir an. Nimm wahr, was es zu erkennen gibt. Das ist kein Mensch mehr, nur eine leere Hülle. Kotzen macht ihn nicht wieder lebendig.
    Ich öffnete die Augen, übersah tunlichst die verstümmelte Brust und die Arme und wollte mich auf die Gesichtszüge des Opfers konzentrieren.
    Das war nicht möglich.
    Auch der Kopf war abgehackt. Ich starrte den zerklüfteten Halsstumpf an. Der Kopf war einfach nicht da, wo er sein sollte, genau wie die Hände. Ein Mann braucht doch seinen Kopf, und er sollte Hände haben. Sie sollten nicht so einfach verschwinden.
    Der Anblick war beunruhigend – auf irgendeine sehr simple Weise war dies völlig falsch. Tief in mir kreischte eine Stimme, ich solle weglaufen, doch ich starrte die Leiche an, und mein Magen drohte wieder mit übereilten Reaktionen. Ich betrachtete die Stelle, wo der Kopf fehlte, bekam aber nicht mehr heraus als: »Du meine Güte. Ich frage mich, was ihn umgebracht hat.«
    »Immerhin kann ich Ihnen sagen, was ihn nicht umgebracht hat«, antwortete Butters. »Es war nicht der Blutverlust.«
    »Wie meinen Sie das?«, wollte ich von ihm wissen.
    Er hob einen Arm des Toten und deutete auf die dunkel gesprenkelten Verfärbungen der Haut, wo die Leiche den Tisch berührte. »Sehen Sie das? Leichenflecken. Wäre der Mann durch die Verstümmelungen an den Armen oder am Hals verblutet, dann hätte der Körper nicht mehr genügend Blut gehabt, um sich so zu verfärben. Sein Herz hätte einfach das Blut aus dem Körper herausgespritzt, bis er gestorben wäre.«
    »Wenn es nicht die Wunden waren, was war es dann?«, fragte ich ihn.
    »Wenn ich raten soll, würde ich sagen, es war die Pest oder so etwas.«
    Verdutzt starrte ich ihn an.
    »Eine Seuche«, erklärte er. »Oder mehrere Seuchen. Sein Innenleben könnte aus einem Lehrbuch für Infektionskrankheiten stammen. Es sind noch nicht alle Testergebnisse da, aber bis jetzt war jedes, das ich bekommen habe, positiv. Von Beulenpest bis zu einer Halsentzündung ist alles vorhanden. Außerdem hat er einige weitere Symptome, die ich keiner mir bekannten Krankheit zuordnen kann.«
    »Dann sind Sie also der Ansicht, er sei an einer Krankheit gestorben?«
    »An Krankheiten. Mehrzahl. Und jetzt passen Sie auf. Ich glaube, eine davon waren die Pocken.«
    »Ich dachte, die Erreger seien ausgerottet«, wandte Murphy ein.
    »Weitgehend, ja. Es gibt einige vereinzelte Exemplare in Tresoren, wahrscheinlich in der Bio-Waffenforschung, aber das dürfte auch schon alles sein.«
    Nachdenklich sah ich Butters an. »Warum stehen wir dann so locker hier vor dem von Seuchen infizierten Leichnam?«
    »Immer mit der Ruhe«, sagte Butters. »Die wirklich hässlichen Sachen werden nicht durch die Luft übertragen. Ich habe die Leiche recht gründlich desinfiziert. Solange Sie den Mundschutz tragen und den Toten nicht berühren, dürfte Ihnen nichts passieren.«
    »Was ist mit den Pocken?«
    »Sie sind doch geimpft.«
    »Aber ist es im Grunde gefährlich, den Toten hier liegen zu haben, oder?«
    »Ja«, gab Butters offen zu. »Nur ist unsere Leichenhalle voll, und wenn ich Pockenerreger melde, gibt es eine lästige Untersuchung, die uns bloß behindert.«
    Murphy warf mir einen warnenden Blick zu und schob sich zwischen mich und Butters. »Konnten Sie den Zeitpunkt des Todes ermitteln?«
    Butters zuckte mit den Achseln. »Vor ungefähr achtundvierzig Stunden, keinesfalls vorher. All die Krankheiten sind genau im gleichen Augenblick ausgebrochen. Als Todesursache werde ich Schock oder massives Versagen und Nekrose mehrere lebenswichtiger Organe und Gewebeschaden durch lebensgefährlich hohes Fieber angeben. Man kann nur raten, welches Organ das blaue Band bekommen sollte – Lungen, Nieren, Herz, Leber, Milz…«
    »Wir haben verstanden«, erwiderte Murphy.
    »Lassen Sie mich noch eines sagen. Es ist, als hätten sich alle Erreger, mit denen der Mann jemals in Berührung gekommen ist, verschworen, damit jeder ihn im richtigen Augenblick infiziert. Das ist einfach unmöglich. Er hatte wahrscheinlich mehr Keime als Blutkörperchen in sich.«
    »Das Gemetzel fand also erst nach seinem Tod statt?«, wollte ich wissen.
    Butters nickte. »Teilweise, ja. Die Schnitte auf der Brust bekam er allerdings vorher. Sie waren mit Blut gefüllt. Vielleicht hat jemand ihn vor

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