Silberlinge
und nahm das zusammengefaltete Tuch mit jener Behutsamkeit und Vorsicht an, die man sonst nur bei Sprengstoff oder Reagenzgläsern mit tödlichen Viren an den Tag legt. »Sofort. Guten Abend, Mister Dresden. Kommen Sie doch rein.«
»Vater«, sagte ich, »Sie sehen so aus, wie mein Tag verlaufen ist.«
Forthill lächelte, dann tappte er durch einen langen Flur. Michael führte uns in die Kirche. Über eine Treppe erreichten wir ein Lager, in dem die Kisten auch vor den Fenstern bis zur Decke gestapelt waren, um Platz für einige Klappbetten zu schaffen. Zwei nicht zusammenpassende Lampen erhellten den Raum mit einem weichen goldenen Schein.
»Ich hole uns was zu trinken«, sagte Michael leise und ging zur Tür. »Außerdem muss ich Charity anrufen. Sanya, du solltest dich besser hinsetzen, solange dein Arm nicht versorgt ist.«
»Das geht schon«, sagte Sanya. »Ich helfe dir mit dem Essen.«
»Setz dich, Junge«, schnaubte Shiro. Er ging zur Tür, hielt Michael auf und sagte: »Ruf du nur deine Frau an, ich erledige den Rest.« Dann gingen sie beide hinaus, und ihr leiser Wortwechsel verlor sich auf dem Flur.
Sanya starrte einen Moment die Tür an, dann ließ er sich auf einer Pritsche nieder, sah sich nachdenklich um und sagte schließlich: »Ich nehme an, Sie benutzen die Kräfte der Magie?«
Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ich mich an die Wand. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Er bleckte die Zähne, die sich strahlend weiß von seiner dunklen Haut abhoben. »Wie lange sind Sie schon ein Wiccan?«
»Was soll ich sein?«
»Ein Heide. Ein Hexer.«
»Ich bin kein Hexer«, sagte ich mit einem Blick zur Tür. »Ich bin ein Magier.«
»Wo ist da der Unterschied?« Sanya runzelte die Stirn.
»Im Wort ›Magier‹ ist ein M.«
Er sah mich verständnislos an.
»Keiner versteht mich«, klagte ich. »Wicca ist eine Religion. Vielleicht nicht so dogmatisch wie viele andere, trotzdem ist es eine Religion.«
»Und?«
»Ich halte nicht viel von Religion. Sicher, ich arbeite mit Magie, aber das ist… es ist eher, als wäre ich ein Mechaniker. Oder ein Ingenieur. Bestimmte Kräfte verhalten sich auf eine bestimmte Weise. Wenn man weiß, was man tun muss, kann man diese Kräfte für sich arbeiten lassen. Dazu braucht man keinen Gott und keine Gottheit.«
Das überraschte ihn sichtlich. »Dann sind Sie also kein religiöser Mensch.«
»Ich würde kein anständiges Glaubenssystem mit meiner Teilnahme belasten wollen.«
Nach kurzem Überlegen nickte der große Russe bedächtig. »So empfinde ich auch.«
Wie Spock zog ich eine Augenbraue hoch. »Das ist jetzt ein Witz, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ich bin seit meiner Kindheit Atheist.«
»Sie nehmen mich auf den Arm. Immerhin sind Sie ein Ritter vom Kreuz.«
»Da«, bestätigte er auf Russisch.
»Wenn Sie nicht religiös sind, warum riskieren Sie dann Ihr Leben, um anderen zu helfen?«
»Weil es jemand tun muss«, antwortete er ohne Zögern. »Zum Wohle der Menschen muss sich jemand dem Bösen widersetzen. Jemand muss den Mut aufbieten und sein Leben in den Dienst des Gemeinwohls stellen.«
»Warten Sie mal«, sagte ich. »Sind Sie ein Ritter vom Kreuz geworden, weil Sie Kommunist waren?«
Sanya verzog angewidert das Gesicht. »Gewiss nicht. Ich bin Trotzkist. Das ist etwas ganz anderes.«
Beinahe wäre ich vor Lachen laut herausgeplatzt. »Wie haben Sie Ihr Schwert bekommen?«
Mit der unverletzten Hand tastete er nach der Klinge, die neben ihm auf der Pritsche lag. »Esperacchius. Michael hat es mir gegeben.«
»Ich wusste gar nicht, dass Michael schon mal in Russland war.«
»Nicht dieser Michael«, erwiderte Sanya und zeigte mit dem Finger nach oben. »Der da.«
Fassungslos starrte ich ihn eine Weile an. »Also haben Sie von einem Erzengel ein heiliges Schwert bekommen, mit dem Sie gegen die Kräfte des Bösen kämpfen sollen, und bleiben irgendwie trotzdem ein Atheist. Und das soll ich Ihnen glauben?«
Sanya funkelte mich finster an.
»Kommt Ihnen das nicht selbst ziemlich albern vor?«
Er starrte noch eine Weile, ehe er tief Luft holte und nickte.
»Vielleicht könnte man sagen, dass ich ein Agnostiker bin.«
»Ein Agnostiker?«
»Einer, der sich nicht auf den Glauben an die göttliche Macht festlegen will.«
»Ich weiß, was das Wort bedeutet, aber ich wundere mich, dass Sie sich so einordnen. Sie sind mehr als einer göttlichen Kraft persönlich begegnet. Eine davon hat Ihnen vor knapp einer halben Stunde
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