Silberlinge
den Arm gebrochen.«
»Viele Dinge können einem den Arm brechen. Sie sagten selbst, dass Sie weder Gott noch Göttin brauchen, um Ihren Glauben an das Übernatürliche zu definieren.«
»Ja, aber ich bin kein Agnostiker. Ich bin nur ein Nichtkombattant. So eine Art theologische Schweiz.«
»Das sind doch nur Worte«, erwiderte Sanya. »Ich begreife Ihren Standpunkt nicht.«
Diesmal holte ich tief Luft. Ich rang immer noch mit dem Lachen. »Ich will damit sagen, dass man schon ziemlich beschränkt sein muss, um zu stehen, wo Sie stehen, um zu sehen, was Sie gesehen haben, und um dennoch zu behaupten, Sie seien nicht sicher, ob es Gott gibt.«
»Nicht unbedingt«, gab er zurück. »Es ist gut möglich, dass ich verrückt bin und dass dies alles hier nur eine Halluzination ist.«
Jetzt musste ich wirklich lachen. Ich war viel zu müde und erschöpft, um höflich zu bleiben. Ich lachte aus vollem Hals, und es war mir egal, dass Sanya auf seiner Pritsche saß und mich finster musterte.
Shiro kehrte mit einem Teller Sandwiches und eingelegtem Gemüse zurück. Mit seinen Eulenaugen blinzelte er erst Sanya und dann mich an und sagte auf Russisch etwas zu dem Schwarzen. Nun sah der junge Ritter Shiro finster an, neigte aber, bevor er aufstand, den Kopf so tief, dass es fast eine Verbeugung war, nahm sich zwei Sandwiches und ging hinaus.
Shiro wartete, bis Sanya gegangen war, ehe er den Teller auf einen Klapptisch stellte. Mein Magen flippte fast aus, als ich das Essen roch. Große Anstrengungen gepaart mit Todesangst lösen bei mir immer einen mächtigen Hunger aus. Shiro machte eine einladende Geste und zog zwei Klappstühle heran. Ich setzte mich und langte zu. Truthahn und Käse, herrlich.
Der alte Ritter hatte anscheinend einen ähnlichen Appetit. Eine Weile aßen wir schweigend und zufrieden, bis er sagte: »Sanya hat Ihnen seinen Glauben erklärt.«
Meine Mundwinkel zuckten schon wieder. »Ja.«
Shiro schnaubte erfreut. »Sanya ist ein guter Mann.«
»Ich verstehe nur nicht, warum er als Ritter vom Kreuz auserwählt wurde.«
Während er kaute, blickte Shiro mich über den Brillenrand hinweg nachdenklich an. Schließlich sagte er: »Die Menschen kennen nur Gesichter, Hautfarben, Flaggen und Mitgliederlisten.« Wieder biss er herzhaft zu, schluckte und fuhr fort: »Gott dagegen blickt ins Herz.«
»Wenn Sie meinen«, erwiderte ich.
Darauf sagte er nichts mehr. Erst als ich das zweite Sandwich verdrückt hatte, sprach er weiter. »Sie suchen nach dem Grabtuch.«
»Das ist vertraulich«, erwiderte ich.
»Wie Sie meinen«, wiederholte er meine eigenen Worte. Die Fältchen um seine Augen vertieften sich. »Warum?«
»Warum was?«
»Warum suchen Sie danach?«, fragte er kauend. »Falls ich danach suche – was jetzt nicht heißt, dass es zutrifft –, dann nur, weil mich ein Klient damit beauftragt hat.«
»Es ist Ihr Job«, sagte er.
»Genau.«
»Sie tun es, um Geld zu verdienen.«
»Ganz genau.«
»Hmpf«, machte er und schob die Brille mit dem kleinen Finger hoch. »Lieben Sie das Geld, Mister Dresden?«
Ich nahm eine der Servietten, die neben dem Teller bereitlagen, und wischte mir den Mund ab. »Ich dachte mal, ich liebe es, aber inzwischen weiß ich, dass es einfach notwendig ist.«
Shiro lachte laut. Es klang, als würde er fast daran ersticken.
»Ist das Sandwich gut?«
»Klasse.«
Einige Minuten später kehrte Michael mit betretener Miene zurück. In diesem Raum gab es keine Uhr, aber es musste schon deutlich nach Mitternacht sein. Hätte ich Charity Carpenter um diese Zeit angerufen, dann hätte ich danach vermutlich auch ein langes Gesicht gemacht. Wenn es um die Sicherheit ihres Mannes ging, dann konnte sie zum Tier werden – besonders, wenn sie hörte, dass ich in der Nähe war. Na gut, Michael hatte mehrmals eine Menge einstecken müssen, wenn er mit mir an einem Fall gearbeitet hatte, aber trotzdem hielt ich das für unfair. Schließlich machte ich das nicht mit Absicht.
»Charity war wohl nicht erfreut?«, fragte ich.
Michael schüttelte den Kopf. »Sie macht sich Sorgen. Ist noch ein Sandwich da?«
Zwei waren noch übrig. Er nahm sich eins, und ich nahm mir das andere, um ihm Gesellschaft zu leisten. Während wir aßen, zog Shiro sein Schwert aus der Scheide, holte sein Putzzeug heraus und polierte die Klinge mit einem weichen Tuch und einer Art Öl.
»Harry«, sagte Michael schließlich, »ich muss dich um etwas bitten. Es ist sehr viel verlangt, und unter normalen
Weitere Kostenlose Bücher