Silberlinge
Eigentlich hatte ich erwartet, bei einem Büroservice zu landen, aber zu meiner Überraschung meldete er sich selbst mit angespannter und offenbar besorgter Stimme. »Ja?«
»Harry Dresden. Ich wollte mich mal bei Ihnen melden.«
»Ah ja, einen Moment bitte.« Vincent sagte etwas, im Hintergrund sprach noch jemand, dann ging er im Raum umher und schloss eine Tür. »Die Polizei«, sagte er. »Ich habe mich den ganzen Abend mit den Beamten beraten.«
»Hatten Sie Erfolg?«, fragte ich.
»Das weiß Gott allein«, erwiderte Vincent. »Aber es scheint mir fast so, als wäre bei alledem bisher nur herausgekommen, welche Abteilung die Ermittlungen übernehmen soll.«
»Die Mordkommission?«, riet ich.
»Allerdings«, antwortete Vincent trocken. »Auch wenn ich keinen Schimmer habe, aufgrund welcher Logik sie darauf verfallen sind.«
»Es ist ein Wahljahr. Die Stadtverwaltung achtet sehr auf die politischen Gegebenheiten. Sobald Sie mit den Polizisten direkt zusammenarbeiten, werden Sie vorankommen. Es gibt in jeder Abteilung gute Leute.«
»Das hoffe ich auch. Haben Sie etwas herausgefunden?«
»Ich habe eine Spur, weiß allerdings noch nicht, wie gut sie ist. Die Diebe sind möglicherweise auf einem kleinen Schiff im Hafen. Ich fahre gleich selbst hin.«
»Sehr gut«, lobte mich Vincent.
»Soll ich die Polizei einschalten, falls die Spur etwas taugt?«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie zuerst mich verständigen könnten«, entschied Vincent. »Ich weiß immer noch nicht, wie weit ich der hiesigen Polizei trauen kann. Irgendwie lässt mich der Gedanke nicht los, dass die Diebe einen Grund gehabt haben müssen, ausgerechnet hierher zu fliehen. Entweder sie haben hier Kontaktleute, oder sie stehen mit den örtlichen Behörden auf gutem Fuße. Ich möchte so viel Zeit wie möglich haben, um herauszufinden, wem ich trauen kann.« Mir fielen Marcones Vollstrecker ein, die mich hatten ausschalten wollen. Die Chicagoer Polizei hatte einen unverdient schlechten Ruf, was Korruption anging. Teilweise lag dies an den ausufernden Aktivitäten des organisierten Verbrechens während der Prohibition. Die Verhältnisse hatten sich geändert, aber so waren die Leute eben, und niemand war ganz und gar immun gegen Bestechung. Marcone hatte schon früher mit erschreckender Geschwindigkeit Informationen beschafft, die eigentlich nur die Polizei haben konnte.
»Das ist vielleicht keine schlechte Idee. Ich werde mich umsehen und Sie dann informieren. Es sollte nicht länger als ein oder zwei Stunden dauern.«
»Sehr gut. Vielen Dank, Mister Dresden. Gibt es sonst noch etwas?«
»Ja«, sagte ich. »Ich hätte schon gestern Abend daran denken sollen. Haben Sie zufällig ein kleines Stück vom Grabtuch?«
»Ein Stück vom Grabtuch?«
»Irgendeinen kleinen Fetzen oder einzelne Fäden. Mir ist bekannt, dass in den siebziger Jahren mehrere Proben analysiert wurden. Haben Sie Zugriff auf eines dieser Stücke?«
»Das ist gut möglich. Warum?«
Ich musste mir vor Augen halten, dass Vincent nicht an übernatürliche Kräfte glaubte, daher konnte ich nicht einfach damit herausrücken, dass ich das Grabtuch mit Hilfe der Thaumaturgie ausfindig machen wollte. »Um oberflächlich die Echtheit zu prüfen, falls ich es finde. Ich möchte mich nicht mit einem Trick hereinlegen lassen.«
»Natürlich. Ich rufe an und lasse Ihnen per Kurier eine Probe schicken. Vielen Dank.«
Ich verabschiedete mich, legte auf und starrte das Telefon eine geschlagene Minute lang an. Dann holte ich tief Luft und wählte Michaels Nummer.
Obwohl der Himmel praktisch noch dunkel war, schellte das Telefon nur ein einziges Mal, ehe jemand abhob.
»Hallo?«, sagte sie.
Es war mein Alptraum. »Oh, äh, hallo, Charity. Harry Dresden hier.«
»Hi!«, sagte die Frau. »Ich bin nicht Charity.«
Vielleicht war es doch nicht mein Alptraum, sondern nur die älteste Tochter. »Molly?«, fragte ich. »Du klingst ganz schön erwachsen.«
Sie lachte. »Ja, und die gute Fee hat mir auch schon die Figur dazu geschenkt. Wollen Sie mit Mom sprechen?«
An dieser Stelle sollte ich vielleicht einflechten, dass ich eine Sekunde brauchte, um zu erkennen, dass die Bemerkung über die Fee ein Scherz gewesen war. Manchmal hasse ich meinen Beruf. »Tja, äh… ist dein Dad vielleicht da?«
»Also wollen Sie gar nicht mit Mom sprechen, kapiert«, sagte sie. »Er arbeitet am Anbau. Ich hole ihn.«
Sie legte den Hörer ab und entfernte sich. Im Hintergrund sangen Kinder im Radio,
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