Silberlinge
Hände in die Manteltaschen und zog die Schultern hoch.
Normalerweise kann ich mich auf meinen Instinkt verlassen, was andere Menschen angeht – vorausgesetzt, es sind keine Frauen, die möglicherweise bereit sind, nicht jugendfreie Dinge mit mir anzustellen. Ich glaubte, was das Archiv mir versprochen hatte, außerdem war die Kleine so süß und fror da draußen. »Gut«, stimmte ich zu, »dann komm rein.«
Ich trat zurück und öffnete die Tür ganz. »Warte im Wagen«, sagte das Archiv zu Kincaid. »Hol mich in zehn Minuten ab.«
Kincaid runzelte die Stirn, dann beäugte er mich. »Bist du sicher?«
»Völlig.« Das Archiv marschierte an mir vorbei und zog sich den Mantel aus. »Zehn Minuten. Ich will zurück, bevor die Rushhour beginnt.«
»Sei ja nett zu dem kleinen Mädchen«, sagte Kincaid zu mir. »Ich kenne Typen wie dich.«
»Ich bekomme noch vor neun Uhr mehr Drohungen als die meisten Leute am ganzen Tag«, erwiderte ich und warf ihm die Tür vor der Nase zu. Um der Wirkung willen schloss ich außerdem ab.
Ob ich kleinlich und nachtragend bin? Aber woher denn. Ich zündete ein paar Kerzen an, damit es im Wohnzimmer etwas heller wurde, schürte das Feuer und legte Holz nach, sobald die Glut stärker wurde. Unterdessen hatte das Archiv den Mantel ordentlich gefaltet über die Lehne eines meiner bequemen Sessel gelegt und sich aufrecht und mit im Schoß verschränkten Händen gesetzt. Die kleinen schwarzen Lackschuhe pendelten ein Stück über dem Boden.
Stirnrunzelnd betrachtete ich sie. Ich kann wirklich nicht sagen, dass ich keine Kinder mag, aber ich habe nicht viel Erfahrung mit ihnen. Jetzt saß hier ein kleines Mädchen und wollte mit mir über ein Duell reden. Wieso zum Teufel hatten sie dieses Kind, ganz egal, wie groß sein Wortschatz war, zur Schiedsrichterin ernannt?
»Also, äh, wie heißt du denn?«
»Ich bin das Archiv«, antwortete sie.
»Ja, das habe ich schon verstanden. Ich meinte deinen Namen. Wie nennen die Leute dich?«
»Das Archiv«, wiederholte sie. »Ich habe keinen Nachnamen. Ich bin das Archiv, das war schon immer so.«
»Du bist kein Mensch«, folgerte ich.
»Falsch. Ich bin ein siebenjähriges menschliches Mädchen.«
»Ohne Namen? Jeder hat einen Namen«, antwortete ich. »Ich kann dich doch nicht einfach Archiv nennen.«
Das Mädchen legte den Kopf schief und zog eine hellblonde Augenbraue hoch. »Wie möchten Sie mich denn nennen?«
»Ivy«, sagte ich sofort.
»Warum Ivy?«, wollte sie wissen.
»Du bist das Archiv. Arch-iv. Arch-ivy. Ivy.«
Das Mädchen schürzte die Lippen. »Ivy«, sagte sie und nickte langsam. »Sehr gut.« Sie betrachtete mich einen Moment lang. »Nun stellen Sie schon Ihre Fragen, Magier. Wir sollten das am besten sofort erledigen.«
»Wer bist du? Warum nennst du dich das Archiv?«, fragte ich.
Ivy nickte. »Die ausführliche Erklärung würde jetzt zu weit führen. Kurz gesagt, bin ich die lebende Erinnerung der ganzen Menschheit.«
»Was meinst du damit?«
»Ich bin die Summe des menschlichen Wissens, wie es von Generation zu Generation, von Mutter zu Tochter, weitergegeben wurde. Kultur, Wissenschaft, Philosophie, Überlieferungen, Traditionen. In mir stecken die gesamten Erinnerungen von tausend Generationen der Menschheit. Ich nehme alles auf, was die Menschen sprechen und schreiben. Ich studiere, ich lerne. Es ist meine Aufgabe, das Wissen zu erwerben und zu bewahren.«
»Heißt das, wenn irgendwo etwas niedergeschrieben wurde, dann weißt du es?«
»Ich weiß es und verstehe es.«
Ich setzte mich langsam auf die Couch. Bei den Toren der Hölle, das überstieg fast mein Begriffsvermögen. Wissen ist Macht, und falls Ivy mir die Wahrheit sagte, dann wusste sie mehr als jeder andere lebende Mensch. »Wie hast du diese Aufgabe bekommen?«
»Meine Mutter hat sie mir übertragen«, erwiderte sie. »Das geschah bei meiner Geburt, genau wie bei ihr damals.«
»Und deine Mutter lässt dich von einem Söldner herumkutschieren?«
»Gewiss nicht. Meine Mutter ist tot.« Sie runzelte die Stirn. »Genau genommen ist sie nicht tot, aber alles, was sie wusste und war, ist auf mich übergegangen. Danach war sie ein leeres Behältnis. Sie liegt in einer Art Koma.« Jetzt blickten ihre Augen ein wenig wehmütig. »Sie ist nun frei, allerdings im gewöhnlichen Sinne nicht mehr am Leben.«
»Das tut mir leid.«
»Dazu gibt es keinen Grund. Ich kenne meine Mutter und alle anderen vor ihr.« Sie legte sich einen Finger an die Schläfe.
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