Silberlinge
wenn ich zwei Rehe entdeckt hätte, die auf der Wiese grasten oder im Vogelbad tranken, dann hätte es mich nicht überrascht.
Ich stieg aus dem Käfer und hielt den Sprengstock locker in der rechten Hand. Als ich das Zauntor öffnete, klingelten ein paar muntere Glöckchen an einer Leine. Eine Feder zog das Tor hinter mir wieder zu. Ich klopfte an die Haustür und wartete eine Weile, aber niemand öffnete. Ich runzelte die Stirn. Michaels Haus war noch nie leer gewesen. Charity hatte mindestens zwei Kinder, die noch zu jung für die Schule waren. Zu ihnen zählte auch der arme kleine Kerl, den sie nach mir benannt hatten. Harry Carpenter. Geht es noch grausamer?
Prüfend blickte ich zu der halb hinter Dunstschleiern verborgenen Sonne hinauf. Müssten die älteren Kinder nicht so langsam aus der Schule kommen? Charity legte eine Art mütterliche Besessenheit an den Tag und vermied um jeden Preis, dass die Kinder in ein leeres Haus zurückkehrten. Irgendjemand hätte hier sein müssen.
In meiner Magengrube machte sich ein übles, flaues Gefühl breit.
Noch einmal klopfte ich und legte ein Ohr an die Tür, um zu lauschen. Ich hörte das langsame Ticken der Standuhr im vorderen Zimmer. Einen Moment lang sprang die Heizung an, und drinnen flüsterten die Ventilatoren. Es knarrte, wenn der Wind am Haus vorbeistrich. Das Knacken von altem, bewohntem Holz.
Sonst nichts.
Ich rüttelte an der Tür. Abgeschlossen. Dann verließ ich die Veranda und folgte dem kleinen Weg, der hinter das Haus führte.
Wenn die Vorderfront sich in einer Haus- und Gartenzeitschrift gut gemacht hätte, dann hätte die Rückfront eher in eine Heimwerkerwerbung gepasst. Der große Baum, der mitten auf der Wiese stand, spendete im Sommer viel Schatten, aber da nun die Blätter fehlten, entdeckte ich das festungsähnliche Baumhaus, das Michael für seine Kinder gebaut hatte. Die Wände waren gestrichen, es hatte sogar ein Fenster und praktisch überall, wo jemand herunterfallen konnte, ein Geländer. Es besaß sogar eine kleine Veranda, von der aus man den Hinterhof überblicken konnte. Ich hatte nicht einmal einen Baum, vom Rest ganz zu schweigen. Das Leben ist echt ungerecht.
Ein Anbau, der sich nach hinten erstreckte, nahm einen großen Teil des Hofs in Anspruch. Das Fundament war schon gegossen, und einige Balken zeigten, wo später die Wände stehen sollten. An die Balken waren schwere Bauplanen getackert, um den Wind abzuhalten. Die separate Garage war geschlossen, ein Blick durchs Fenster zeigte mir, dass sie mit Holz und anderem Baumaterial recht gut gefüllt war.
»Keine Autos«, murmelte ich. »Vielleicht sind sie alle zu McDonald’s gefahren. Oder in die Kirche. Gibt es um drei Uhr nachmittags einen Gottesdienst?«
Ich kehrte zum Käfer zurück. Also musste ich Michael wohl oder übel einen Zettel schreiben. Mein Magen flatterte vor Angst. Wenn ich keinen Sekundanten für das Duell fand, würde es vermutlich ein mieser Abend werden. Vielleicht sollte ich Bob bitten, als Sekundant einzuspringen. Oder Mister. Mit meinem Kater legt sich so schnell niemand an.
Irgendetwas klapperte in den metallenen Regenrinnen, die rings ums Dach liefen.
Ich fuhr auf wie ein scheuendes Pferd und entfernte mich vom Haus in Richtung der Garage, die hinten im Hof stand, um von dort aus einen Blick aufs Dach zu werfen. Da mir am vergangenen Tag nicht weniger als drei unterschiedliche Gruppen nach dem Leben getrachtet hatten, fühlte ich mich völlig im Recht damit, leicht nervös zu werden.
Als ich ganz hinten im Hof stand, konnte ich das Dach immer noch nicht überblicken. Deshalb stieg ich auf ein paar Äste und dann die zwei Meter hohe Leiter zum Baumhaus hinauf. Von dort aus konnte ich endlich erkennen, dass das Dach leer war.
Dann hörte ich rasche, recht schwere Schritte unter mir und jenseits des Zauns, der den kleinen Hof nach hinten begrenzte. Ich verharrte reglos und lauschte.
Die schweren Schritte näherten sich, dann kratzte das Tor über trockenes Laub und andere herbstliche Abfälle. Jemand grunzte gedämpft und schnaufte leise. Nun näherten sich die Schritte dem Baum.
Ich sah mich um, doch die Leiter war der einzige Weg nach unten, falls ich nicht springen wollte. Es waren kaum mehr als drei Meter, wahrscheinlich würde ich sogar unversehrt unten ankommen. Wenn ich mich aber verschätzte und mir den Knöchel verrenkte oder gar ein Bein brach, konnte ich nicht mehr weglaufen. Springen war also nur die allerletzte Möglichkeit.
So
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