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Silberlinge

Silberlinge

Titel: Silberlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim Butcher
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sammelte ich meine Willenskraft, fasste den Sprengstock fester und zielte auf die Stelle, wo die Leiter die Plattform berührte. Auf der Spitze des Stocks glühte ein kleiner roter Punkt.
    Dann tauchten blondes Haar und die obere Hälfte eines ausgesprochen hübschen Mädchengesichts unter mir auf. Sie keuchte leise und riss die blauen Augen weit auf. »Ach du Scheiße.«
    Ich nahm die Spitze des Sprengstocks sofort hoch, damit sie nicht mehr auf das Mädchen zielte, und löste die aufgestaute Energie auf. »Molly?«
    Sie kletterte ganz herauf. »Mann, ist das eine Schweißflamme oder so was?«
    Blinzelnd beäugte ich Molly aus der Nähe. »Ist das da ein Ohrring in deiner Augenbraue?«
    Das Mädchen hob die Hand. »Und in deiner Nase?«
    Molly sah sich verstohlen zum Haus um. Sie war so groß wie ihre Mutter, hatte jedoch im Verhältnis zum Rumpf viel zu lange Arme und Beine. Bekleidet war sie mit der Uniform einer Privatschule – Rock, Bluse und Pullover –, doch die Kleidung hatte gelitten, als wäre sie einem Lustmolch begegnet, der Rasierklingen anstelle von Fingern hatte.
    Der Rock bestand im Grunde nur aus Fetzen, darunter trug sie eine schwarze Strumpfhose, die ebenfalls zahlreiche schamlose Löcher hatte. Hemd und Pullover hatten die Attacke anscheinend unbeschadet überstanden, der hellrote Satinbüstenhalter dagegen, den sie darunter trug, war nagelneu. Außerdem hatte sie zu viel Make-up aufgelegt. Nicht so schlimm wie die meisten Mädchen, die zu alt zum Fangen spielen und zu jung für den Führerschein sind, aber immerhin. In einer hellen Augenbraue klemmte ein dünner goldener Ring, aus der Nase ragte ein goldener Stecker.
    Ich hatte Mühe, nicht breit zu grinsen. Damit hätte ich zugegeben, dass ich sie amüsant fand. Sie war jung genug, um wegen so etwas verletzt zu sein, und ich hatte eine undeutliche Erinnerung, dass ich einmal ähnlich lächerlich gewesen war. Soll derjenige den ersten Stein werfen, der nie eine Cargohose getragen hat.
    Molly kletterte ins Baumhaus und warf einen dicken Rucksack auf den Holzboden. »Lauern Sie oft in Baumhäusern, Mister Dresden?«
    »Ich suche deinen Dad.«
    Molly rümpfte die Nase, dann zog sie den Nasenstecker heraus. Ich sah nicht genau hin. »Ich will Ihnen ja nicht vorschreiben, wie Sie Ihre Nachforschungen anzustellen haben, aber normalerweise finden Sie ihn eher selten in Baumhäusern.«
    »Ich habe an der Vordertür geklopft, aber da hat niemand aufgemacht. Ist das normal?«
    Nun nahm sie auch den Ring aus der Augenbraue, kippte den Rucksack aus und zog einen langen Rock mit Blumenmuster, ein T-Shirt und einen Pullover heraus. »Heute ist Einkaufstag. Mom hat die ganzen rotznäsigen Jawas in den Sandcrawler gepackt und kurvt in der Stadt herum.«
    »Ach so. Weißt du, wann sie zurückkommen wollte?«
    »Sie müsste bald wieder da sein.« Molly zog den Rock über und pellte sich aus dem zerfetzten Uniformrock und der Strumpfhose. Dann waren das Hemd und der rosafarbene Pullover an der Reihe, und zuletzt zog sie zu meinem Unbehagen unter der konservativen Kleidung den hellroten Büstenhalter aus und steckte ihn in den Rucksack.
    Ich drehte ihr so gut wie möglich den Rücken zu. Die Handschellen, die Anna Valmont mir verpasst hatte, rieben und zwickten. Gereizt kratzte ich mich. Inzwischen war ich oft genug in Handschellen gelegt worden. Ich sollte längst einen Schlüssel haben.
    Von irgendwo holte Molly ein feuchtes Kosmetiktuch und entfernte das Make-up. »He«, fragte sie gleich darauf, »was ist denn los?«
    Ich hob stöhnend den Arm und ließ die Handschellen pendeln.
    »Oh, wie hübsch«, sagte Molly. »Sind Sie auf der Flucht? Verstecken Sie sich im Baumhaus, damit die Cops Sie nicht finden?«
    »Nein«, sagte ich. »Das ist eine sehr lange Geschichte.«
    »Ooooh«, machte Molly altklug. »Dann sind das also Schlafzimmerhandschellen und nicht die üble Sorte. Schon kapiert.«
    »Nein!«, protestierte ich. »Woher weißt du überhaupt, wozu man im Schlafzimmer Handschellen braucht? Du bist doch erst zehn.«
    »Vierzehn«, schnaubte sie.
    »Wie auch immer, du bist zu jung.«
    »Internet«, erklärte sie weise. »Die Hauptaufgabe eines jeden jungen Menschen ist das Lernen.«
    »Mein Gott, ich komme mir steinalt vor.«
    Kichernd wühlte Molly wieder im Rucksack herum, dann packte sie mein Handgelenk, klimperte mit einem kleinen Schlüsselbund und probierte nacheinander die Schlüssel an den Handschellen aus. »Nun verraten Sie mir endlich die leckeren

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