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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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etwas getan hatte. Man bezahlt dafür, so.
    So war er nach Fionavar gekommen. An den Sommerbaum.
    Die Vorlesung ist zu Ende. Zeit zu sterben.
     
    Diesmal war es die Stille. Völlige und ungebrochene Stille im Wald. Der Donner hatte aufgehört. Er war zu Asche geworden, zu einer leeren Hülle: was immer am Ende übrig bleibt.
    Am Ende kehrte man zurück, weil zumindest dies jedermann gewährt wurde: dass man sich wissend auf den Weg ins eigene Ich begab. Das war eine gänzlich unerwartete Fügung. Ausgetrocknet, eine bloße Schale, konnte er immer noch Dankbarkeit empfinden, dass man ihm seine Würde ließ.
    Es war unnatürlich still in der Dunkelheit. Sogar das Pulsieren des Baumes hatte aufgehört. Kein Lüftchen war zu spüren, kein Laut zu hören. Die Leuchtkäfer waren verschwunden. Nichts regte sich. Es war, als würde sich selbst die Erde nicht mehr bewegen.
    Dann kam es. Er sah, dass sich unerklärlicherweise ein hauchfeiner Nebel vom Waldboden erhob. Aber nein, nicht unerklärlicherweise: Der Nebel stieg auf, weil es ihm bestimmt war. Was war an diesem Ort schon erklärlich?
    Mühsam wandte er den Kopf, erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Im Geäst hockten zwei Vögel, beides Raben. Ich kenne die beiden, dachte er, ohne noch in der Lage zu sein, Überraschung zu empfinden. Sie werden Gedanke und Erinnerung genannt. Das habe ich vor langer Zeit erfahren.
    Es stimmte. Sie wurden in sämtlichen Welten so bezeichnet, und dies war ihr Nistplatz. Sie gehörten dem Gott.
    Doch selbst die Vögel verhielten sich still, und ihre hellgelben Augen blickten starr und reglos. Sie warteten, genau wie die Bäume warteten. Nur der Nebelhauch bewegte sich; er war inzwischen höher gestiegen. Kein Laut war zu hören. Der gesamte Götterwald schien sich gesammelt zu haben, als wolle die Zeit sich irgendwie öffnen, Raum schaffen – und erst da wurde Paul endlich klar, dass es nicht der Gott war, auf den sie warteten, sie warteten auf etwas anderes, eigentlich gar kein Teil des Rituals, etwas, das von außen kam … und dann entsann er sich eines Bildes (Gedanke, Erinnerung), das weit zurücklag, in einem anderen Leben, so schien es, beinahe von einem anderen Menschen, der einen Traum gehabt hatte … nein, eine Vision, eine Prüfung, ja, das war es … ein Bild, in dem Nebel vorkam, ja, und ein Wald, und das Warten, ja, Warten, dass der Mond aufgeht, als plötzlich etwas, etwas …
    Aber der Mond konnte nicht aufgehen. Es war kein Mond zu sehen, die Nacht des neuen Mondes. Die schmale Sichel hatte in der vergangenen Nacht den Hund gerettet. Hatte ihn gerettet, um dies erleben zu können. Sie warteten, der Götterwald, die ganze Nacht wartete, gespannt wie eine Sprungfeder, aber einen Mondaufgang konnte es heute Nacht nicht geben.
    Und dann geschah es doch.
    Über den Bäumen am östlichen Rand der Lichtung des Sommerbaums stieg das Licht in den Himmel. Und in der Nacht des neuen Mondes wurde Fionavar vom Licht des Vollmonds beschienen. Während die Bäume des Waldes im unvermittelt aufgekommenen Wind raunten und schwankten, sah Paul, dass der Mond rot war, wie Feuer oder Blut, und spürbare Macht drückte jenem Augenblick den Stempel auf: Dana, die Mutter, war gekommen, um Fürsprache einzulegen.
    Göttin allen Lebens auf sämtlichen Welten; Mutter, Schwester, Tochter, Braut des Gottes. Und da sah Paul mit plötzlicher Einsicht, dass es nicht darauf ankam, wie sie bezeichnet wurde, alles traf zu: Auf dieser Ebene der Macht, auf dieser absoluten Stufe waren Hierarchien nicht mehr von Bedeutung. Nur die Macht zählte, die Ehrfurcht, die Gegenwart, die sich offenbarte. Roter Mond am Himmel in der Nacht des neuen Mondes, damit die Lichtung im Götterwald erhellt werde und der Sommerbaum unten in Dunst und oben in Licht gehüllt sei.
    Paul blickte auf, bar jeglicher Überraschung, bar jeglicher Ungläubigkeit; das Opfer, die leere Hülle. Zukünftiger Regen. Und in jenem Augenblick kam es ihm so vor, als höre er eine Stimme, am Himmel, im Wald, im Fließen seines eigenen, mondfarbenen Blutes, und die Stimme sprach so, dass bei ihrem Klang alle Bäume vibrierten wie lebendige Taktstöcke:
    Es ist nicht gewesen, es wird nicht gewesen sein. Und als das Echo verhallte, war Paul noch einmal auf der Schnellstraße, und Rachel bei ihm im Regen. Und noch einmal sah er, wie dem Mazda ein Reifen platzte und er gegen den Ford prallte. Er sah die durch schleudernde Wagen völlig versperrte Fahrbahn.
    Er sah die dreißig Zentimeter

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