Silbermantel
breite Lücke auf der linken Seite.
Doch nun war Dana bei ihm, die Göttin, und führte ihn dorthin, der Wahrheit entgegen. Und mit einem Crescendo, einem herzzerreißenden Aufblitzen göttlicher Vergebung, wurde er gewahr, dass er die Lücke verfehlt hatte, wenn auch knapp, oh, wenn auch nur knapp, nicht wegen eines Zögerns, hervorgerufen durch einen Mangel an Verlangen, durch Todeswunsch oder Mordlust, sondern weil er schließlich doch nur ein Mensch war. O Frau, das war er. Einfach nur ein Mensch, und er verfehlte sie, weil er verletzt war und traurig, weil er unter Schock stand, und weil es regnete. Aus all diesen verzeihlichen Gründen.
Und ihm wurde verziehen, das begriff er jetzt. Wahrhaft, wahrhaft, ihm wurde verziehen.
Leugne nicht deine eigene Sterblichkeit. Die Stimme war in ihm wie der Wind, eine ihrer Stimmen, nur eine, das wusste er, und in ihrem Klang war Liebe, er wurde geliebt. Du hast versagt, weil Menschen nun einmal versagen. Das ist eine wichtige Gabe.
Und dann, tief in seinem Innern wie die tiefen Klänge einer Harfe, die ihn nicht länger schmerzten, diese letzten Worte: Geh unbesorgt und in Frieden. Alles ist gut.
Sein Hals tat ihm weh. Sein Herz war ein zugeschnürtes, verkrampftes Ding, zu groß für ihn, für das, was von seinem Körper übrig war. Durch den aufgestiegenen Nebel hindurch erschien ihm undeutlich am Rande der Lichtung eine Gestalt: eine Menschengestalt, wenn auch mit dem stolzen Geweih eines Hirsches, und durch den Nebel hindurch sah er, wie die Gestalt sich vor ihm verneigte und dann verschwand.
Die Zeit war gekommen. Die Schmerzen hatten aufgehört. Sein ganzes Wesen war Licht, er wusste, dass seine Augen leuchteten. Er war also nicht an ihrem Tod schuld: Alles war gut. Den Verlust hatte er zu verschmerzen, doch Trauer ob eines Verlustes war erlaubt, wurde gar gefordert. So viel Licht schien ihn zu umgeben, selbst in jenem Augenblick, als der Nebelhauch bis zu seinen Füßen emporgestiegen war.
Und endlich kam sie über ihn, endlich, die süße, süße Linderung seiner Trauer. Da fiel ihm Kevins Lied ein, er erinnerte sich seiner in Liebe: Ein Morgen wird kommen, da du weinst um mich sehr.
Ein Morgen. Und so kam es auch. So. Allem Anschein nach war dies der Morgen, und hier am Ende, im letzten Augenblick weinte er um Rachel Kincaid, die gestorben war.
So kam es, dass Paul am Sommerbaum weinte. Und es erhob sich Donnergrollen so laut wie die Schritte des Schicksals, wie auseinander brechende Welten, und der Gott zeigte sich auf der Lichtung, er war gekommen. Und er ergriff noch einmal das Wort, an seiner Stelle, mit der einen, unverwechselbaren Stimme, welche die seine war, und von der Kraft jenes Donners gelenkt begann der Nebelhauch zusammenzufließen, immer schneller, an dem einen Ort, am Sommerbaum.
Nach oben brodelte er, der Nebel des Götterwaldes, durch das Opfer hindurch empor, am riesigen Stamm des Baumes hinauf, durch den Gott in den nächtlichen Himmel geschleudert wie ein Speer.
Und am Firmament über Brennin türmten sich, während Donner krachte und rumpelte, die Wolken hoch und höher übereinander, und sie breiteten sich vom Mörnirwald her aus und bedeckten das gesamte Land.
Paul fühlte das Strömen. Durch ihn hindurch. Sein Werk. Seines und das des Gottes. Dem er zugehörte. Er spürte die Tränen auf seinem Gesicht. Er fühlte, wie Anspruch auf ihn erhoben wurde, das Strömen, den Nebel, der durch ihn hindurch brodelte, die Raben, die sich hoch in die Lüfte erhoben, den Gott im Baum, in ihm, den Mond, der hinter den Wolken verschwand und wieder hervorkam, nie ganz verschwunden blieb, Rachel, den Sommerbaum, das Holz, die Welt, und oh, den Gott, den Gott. Und dann ein letztes, ehe die Dunkelheit über ihn kam. Regen, Regen, Regen, Regen, Regen.
*
In Paras Derval traten in jener Nacht die Menschen hinaus auf die Straßen. In Dörfern überall in Brennin geschah es ebenso, und Bauern trugen ihre Kinder nach draußen, im Halbschlaf, damit sie den wundersamen Mond sehen konnten, welcher die Antwort der Mutter auf Maugrims Feuer bedeutete, und damit sie ihn auf ihren Gesichtern spüren und sich für alle Zeit erinnern konnten, auch wenn er ihnen wie ein Traum vorkam, der zurückgekehrte Regen, Segen des Gottes auf den Häuptern der Kinder Mörnirs.
Auf der Straße stehend, in Begleitung von Loren und Matt, von Kim und dem verstoßenen Prinzen, weinte auch Kevin, denn er wusste, was dies bedeuten musste, und Paul war ihm immer wie ein Bruder
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