Silbermantel
sagen, dies sei der Kern der Wahrheit, die der ganzen langen Geschichte zugrunde hegt. Das mag sein oder auch nicht, jedenfalls kam sie am Morgen nach seinen Kämpfen zu Amairgen, um ihn mit ihrer Schönheit zu zerbrechen und ihn für die Anmaßung zu richten, die er in der Nacht begangen hatte. Doch Amairgen war, wie Ra-Termaines Lied uns berichtet, an jenem Morgen wie geadelt, umgeben von Macht und Weisheit, und die Gegenwart Mörnirs war an seinen Augen abzulesen. So wirkte die Absicht des einen Gottes der Absicht des anderen entgegen, denn als Lisen damals, eingehüllt in ihre eigene Schönheit wie ein Stern, zu ihm kam, verliebte sie sich in ihn und er sich in sie, und so verwoben sich ihre Schicksale an jenem Morgen im Hain.
Sie wurde zu seiner Quelle. Noch ehe die Sonne an dem Tage untergegangen war, hatte er sie die Runen gelehrt. Mit Hilfe des Rituals wurden sie Magier und Quelle, und damals im Hain wurde die allererste Himmelsmagie bewirkt. Am Abend legten sie sich gemeinsam nieder, und Amairgen verbrachte eine zweite Nacht schlafend im geheiligten Hain, nur diesmal unter dem Mantel ihres Haars. Am Morgen verließen sie gemeinsam diesen Ort, aneinander gebunden, wie bis dahin noch nie zwei Lebewesen aneinander gebunden waren. Da jedoch Amairgens Platz der zur Rechten Conarys war und es andere Männer gab, denen er die Himmelslehre weitergeben musste, kehrte er nach Paras Derval zurück und gründete den Rat der Magier, und Lisen begleitete ihn und verließ somit den Schutz des Waldes.«
Levon verstummte. Schweigend ritten sie lange Zeit dahin. Dann fuhr er fort: »Nun wird die Geschichte wahrhaft kompliziert und nimmt Bezug auf zahlreiche andere Erzählungen aus der Großen Zeit. Damals geschah es, dass jener, den wir den Entwirker nennen, seine Festung Starkadh im Eise errichtete und alle Lande mit Krieg überzog. Es gibt über so viele Heldentaten aus jener Zeit zu berichten. Die, von der die Dalrei singen, handelt von Revors Ritt, und sie ist gewiss nicht die geringste unter den Großtaten, die damals vollbracht wurden. Doch Amairgen Weißast, wie er benannt wurde nach dem Stab, den Lisen für ihn im Pendaranwald gefunden hatte, befand sich ununterbrochen im Zentrum der Schlacht, und Lisen stand ihm zur Seite, Quelle seiner Macht und seiner Seele.
So viele Geschichten gibt es darüber, Davor, doch schließlich ergab es sich, dass Amairgen mit Hilfe seiner Kunst erfuhr, dass Maugrim sich eines Ortes bemächtigt hatte, wo große Kräfte angesiedelt waren, im verborgenen weit draußen auf dem Meer, und ausgiebig davon zehrte, um seine eigene Kraft zu mehren.
Da bestimmte er, dass diese Insel gefunden und der Finsternis entrissen werden müsse. Deshalb versammelte Amairgen einhundert Lios Alfar und Menschen um sich, darunter drei Magier, und sie stachen von Taerlindel aus in See, in westlicher Richtung auf der Suche nach Cader Sedat, und Lisen wurde zurückgelassen.«
»Was? – Wieso denn?« fragte Dave heiser, völlig verblüfft.
Es war Torc, der ihm antwortete. »Sie war eine Deiena«, sagte er, und seine Stimme klang ebenfalls betroffen. »Eine Deiena stirbt, wenn sie sich aufs Meer hinauswagt. Ihre Unsterblichkeit war der Natur ihrer Gattung unterworfen.«
»So ist es«, nahm Levon den Faden wieder auf. »Man baute für sie damals den Anor Lisen am westlichsten Ausläufer Pendarans. Sogar mitten im Krieg vereinten sich Menschen und Lios Alfar und die Mächte des Waldes, und sie taten es aus Liebe zu ihr. Dann legte sie um ihre Stirn »Lisens Reif«, Amairgens Abschiedsgeschenk. Das Licht, das der Finsternis trotzt, wurde er genannt, denn er leuchtete ganz von selbst, und mit jenem Licht auf ihrer Stirn – eine Schönheit, wie es sie niemals zuvor auf irgendeiner Welt gegeben hatte – wandte Lisen dem Krieg und dem Walde den Rücken zu, erklomm die Spitze des Turms und blickte gen Westen über das Meer, damit das Licht, das sie trug, Amairgen den Weg nach Hause weise.
Keiner weiß, was ihm oder jenen, die mit ihm fuhren, zugestoßen ist. Lisen und die, welche neben dem Anor Wache standen, sahen lediglich eines Nachts ein unbeleuchtetes Schiff im Mondlicht langsam die Küste entlangsegeln. Und man erzählt sich, der Mond, der zu dieser Stunde im Westen unterging, habe mit geisterhaftem Licht durch die zerfetzten Segel geschienen, und man habe erkennen können, dass es Amairgens Schiff war und unbemannt. Dann, als der Mond im Meer versank, sei das Schiff für immer verschwunden.
Lisen nahm den
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