Silbermantel
erkennbaren Augen drangen in ihn ein. Ehe er sich wieder losreißen konnte, berührte er einen abgrundtiefen Schmerz, so tief, dass er fürchtete, darin ertrinken zu müssen. Was immer es war, das dort auf der Mauer stand, es hatte einen Verlust erlitten, der Welten umspannte, und es erlitt ihn immer noch. Er kam sich winzig klein vor und erschrak.
Und das Tier rief nach ihm. Paul Schafer spürte inmitten der Sommernacht kalten Schweiß auf seiner Haut und wusste, dass dies ein Teil jener verwirrenden Vision war, die Lorens Prüfung bei ihm ausgelöst hatte.
Mit einer Anstrengung, die ihm heftige körperliche Schmerzen verursachte, unterbrach er die Verbindung. Als er sich abwandte, spürte er die Bewegung wie einen Stich im Herzen.
»Kev«, stieß er hervor, und seine Stimme hallte unheimlich in seinem eigenen Kopf.
»Was ist?« Sein Freund reagierte sofort.
»Dort drüben. Auf der Mauer. Siehst du dort etwas?« Paul deutete auf die Stelle, ohne hinzuschauen.
»Was? Da ist nichts. Was hast du gesehen?« »Ich bin mir nicht sicher.« Er atmete schwer. »Irgendwas. Vielleicht einen Hund.« »Und?« »Und er verlangt nach mir«, sagte Paul Schafer.
Kevin schwieg verblüfft. Einen Moment lang standen sie noch so da und sahen sich an, ohne einander verstehen zu können, dann drehte Schafer sich um und ging nach drinnen. Kevin blieb noch einen Moment zurück, um die anderen zu beruhigen, dann ging auch er ins Zimmer zurück. Paul hatte das kleinere der beiden Betten genommen, die man ihnen eilig aufgestellt hatte, und dort lag er jetzt auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Wortlos zog sich Kevin aus und ging zu Bett. Der Mond warf einen dünnen Lichtstrahl in die hinterste Ecke des Raumes, ohne einen von ihnen zu berühren.
Kapitel 5
Die ganze Nacht hindurch waren sie herbeigeströmt. Finster blickende Männer aus Ailells eigenem Geburtsort Rhoden, fröhliche aus der Festungsstadt Seresh am Saeren, Seeleute aus Taerlindel und Soldaten von den Bollwerken der Nordfeste, von den letzteren jedoch nur wenige, des Mannes wegen, der sich im Exil befand. Dazu kamen die Menschen aus den Dörfern und von den staubtrockenen Gehöften des gesamten Großkönigtums. Seit Tagen schon trafen sie in Paras Derval ein, übervölkerten Gasthöfe und Herbergen, ergossen sich hinaus in die provisorischen Lager vor der Stadt, gleich unterhalb des Palastes. Einige waren aus den einstmals fruchtbaren Gebieten am Glein-Fluss westwärts gewandert; auf ihre im Südosten gefertigten, geschnitzten Stöcke gestützt hatten sie die ausgedörrte Wüstenei des Getreidelandes durchquert, um sich dem staubigen Verkehrsstrom auf der Leinan-Straße anzuschließen. Wieder andere waren aus den Gebieten der Weide- und Milchwirtschaft im Nordosten auf Pferden geritten gekommen, die das Vermächtnis ihres winterlichen Tauschhandels mit den Dalrei an den Ufern des Latham darstellten; und mochten ihre Pferde auch schmerzlich mager sein, so trug doch jedes Tier das reich verzierte Satteltuch, das sämtliche Reiter Brennins woben, ehe sie sich ein Pferd leisteten: ein Gewirk zu Ehren der Gabe der Schnelligkeit, verliehen vom Großen Weber. Auch von jenseits des Leinan kamen sie, ernste, dunkelhäutige Bauern aus Gwen Ystrat in ihren breiten, sechsrädrigen Karren. Doch ihre Frauen kamen nicht, dazu waren sie Dun Maura viel zu nahe, in der Provinz der Mutter.
Aber von überall sonst waren die Frauen und Kinder in großer, lärmend festlicher Zahl erschienen. Selbst inmitten von Dürre und Mangel versammelte sich das Volk von Brennin, um seinem König zu huldigen und dabei vielleicht für kurze Zeit alle Sorgen zu vergessen.
Am Morgen fanden sie sich dicht gedrängt auf dem Platz vor den Mauern des Palastes ein. Wenn sie aufblickten, konnten sie die große Balustrade erkennen, die mit Bannern und farbenfrohen Bändern geschmückt war und, welch ein Wunder, mit dem herrlichen Wandteppich, auf welchem Iorweth im Walde abgebildet war und der nur für diesen Tag hervorgeholt wurde, damit alles Volk in Brennin sehen könne, wie sein Großkönig in Paras Derval unter den Symbolen Mörnirs und des Webers stand.
Aber nicht alles war dem Erhabenen und Heiligen geweiht. Am Rande der Menge bewegten sich Jongleure und Narren und Artisten, die prächtige Kunststücke mit Messern, Schwertern und bunten Tüchern vollführten. Die Cyngael sangen ihre schlüpfrigen Weisen für einzelne Grüppchen lachender Zuhörer und improvisierten gegen ein
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