Silbermantel
Augenbrauen. Sie warf Loren einen kurzen Blick zu, dann wandte sie sich wieder an Paul. »Ich verstehe«, sagte sie. »Doch hast du nichts zu fürchten, denn ich bediene mich nie der Prüfung – ich brauche sie nicht.« Wieder erhob sich im Saal ein Geflüster, denn ihre Worte waren weithin zu hören gewesen.
Langsam senkte Paul den Arm. Und dann begegnete er unverwandt, mit erhobenem Kopf, dem Blick der alten Frau und seltsamerweise war es Ysanne, die als erste die Augen abwandte.
Und dann war es soweit, dann war es soweit, dass sie sich umdrehte, an Jennifer und Kevin vorbeiging, die erstarrte Gestalt Jaelles ignorierend, und zum ersten Male Kimberly erblickte. Vor dem geschnitzten Thron unter den hohen Fenstern des Delevan begegneten ihre grauen Augen einem ebenso grauen Augenpaar. »Ah!« rief da die alte Frau und atmete unwillkürlich ein. Und im sanftesten Flüsterton fügte sie einen Augenblick darauf hinzu: »So lange habe ich jetzt schon auf dich gewartet, Liebes.«
Und allein Kim hatte jene Angst bemerkt, die Ysannes Gesicht überflog, ehe sie diese stillen Worte wie einen Segen sprach. »Wie?« konnte Kim nur stammeln. »Wie meint Ihr das?« Ysanne lächelte. »Ich bin Seherin. Ich träume den Traum.« Und irgendwie wusste Kim, was sie meinte, und plötzlich traten ihr helle Tränen in die Augen.
»Komm zu mir«, flüsterte die Seherin. »Loren wird dir zeigen, wie.« Dann wandte sie sich ab und machte vor dem hochgewachsenen König von Brennin einen Hofknicks. »Lass es dir Wohlergehen, Ailell«, sprach sie zu ihm. »Der andere Grund, aus dem ich gekommen bin, war, mich von dir zu verabschieden. Ich werde nicht wiederkehren, und wir werden uns nicht mehr begegnen, du und ich, zumindest nicht diesseits der Nacht.« Sie hielt inne. »Ich habe dich geliebt. Bewahre das in deinem Herzen.«
»Ysanne –« rief der König. Aber sie hatte sich abgewandt. Und auf ihren Stock gestützt schritt sie, diesmal alleine, inmitten des verblüfften Schweigens den ganzen prunkvollen Saal entlang durch die Flügeltüren hinaus ins Sonnenlicht.
Sehr spät in jener Nacht wurde Paul Schafer zum Großkönig von Brennin gerufen, um mit ihm Ta’Bael zu spielen.
Er wurde von einem Wachsoldaten begleitet, den er nicht kannte, und während er hinter ihm durch die düsteren Korridore ging, war Paul insgeheim dankbar für die geräuschlose Anwesenheit Colls, der ihnen, wie er wusste, folgte.
Der Weg war lang, aber sie begegneten nur den wenigen, die noch wach waren. Eine Frau, die sich hinter einer offenen Tür das Haar kämmte, lächelte ihm zu, ein Trupp Wachsoldaten kam ihnen entgegen, und ihre Schwerter klirrten in den Scheiden, die sie an der Hüfte trugen. Aus einigen der Schlafräume, an denen sie vorbeikamen, hörte Paul das Gemurmel nächtlicher Gespräche, und einmal schrie eine Frau leise und mit angehaltenem Atem auf – ein Laut, der einem andern ähnelte, an den er sich erinnerte.
Die beiden Männer und ihr unsichtbarer Gefolgsmann gelangten schließlich an eine schwere Flügeltür. Schafers Gesicht war ausdruckslos, als sie auf das Klopfen seines Begleiters hin geöffnet wurde und man ihn in einen großen, reich möblierten Raum geleitete, in dessen Mitte zwei tiefe Sessel standen, sowie ein Tisch mit einem Ta’Bael-Spiel.
»Willkommen!« Es war Gorlaes, der Kanzler, der vortrat und Paul zur Begrüßung am Arm fasste. »Es ist liebenswürdig von Euch, dass Ihr gekommen seid.«
»Es ist wirklich liebenswürdig von Euch«, ertönte die dünnere Stimme des Königs. Während er sprach, trat er aus einer dunklen Ecke des Raums hervor. »Ich bin dankbar, dass Ihr Nachsicht habt mit der Schlaflosigkeit eines alten Mannes. Der heutige Tag hat erheblich an mir gezehrt. Gute Nacht, Gorlaes.«
»Herr«, erwiderte der Kanzler eilfertig, »es wäre mir eine Freude, hier zu bleiben, um –«
»Nicht nötig. Geh schlafen. Tarn wird für uns sorgen.« Der König nickte dem jungen Pagen zu, der Paul die Tür geöffnet hatte. Gorlaes sah aus, als wolle er noch einmal protestieren, unterließ es jedoch.
»Dann wünsche ich Euch eine gute Nacht, Herr. Und ich möchte Euch noch einmal meine tiefempfundenen Glückwünsche zu diesem glücklich gewebten Tag ausdrücken.« Er trat vor und küsste mit gebeugtem Knie die Hand, die ihm Ailell hinstreckte. Dann verließ der Kanzler den Raum und ließ Paul allein mit dem König und seinem Pagen zurück.
»Bring Wein an den Tisch, Tarn. Dann werden wir uns selbst bedienen. Geh
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