Silbermantel
zu Bett – ich wecke dich, wenn ich mich zurückzuziehen gedenke. Und nun kommt, junger Fremder«, forderte Ailell ihn auf und ließ sich vorsichtig in einem der Sessel nieder.
Schweigend trat Paul vor und setzte sich in den anderen Sessel. Tarn füllte geschickt die beiden Kelche, die neben dem intarsiengeschmückten Spielbrett standen, dann zog er sich durch die Verbindungstür ins Schlafgemach des Königs zurück. Die Fenster des Zimmers waren offen und die schweren Vorhänge zurückgezogen, um jeden sich regenden Lufthauch einzulassen. Irgendwo draußen sang ein Vogel in einem Baum. Es hörte sich an wie eine Nachtigall.
Die wunderbar geschnitzten Spielfiguren glitzerten im Licht der Kerzen, aber das Gesicht des hochgewachsenen Königs von Brennin lag im Dunkeln, als er sich in seinem Sessel zurücklehnte. Er sprach leise. »Das Spiel, das wir spielen, ist gleich, wie mir Loren versicherte, auch wenn wir die Figuren anders benennen. Ich spiele immer mit Schwarz. Nehmt Ihr Weiß und beginnt.«
Paul Schafer liebte es, beim Schachspiel anzugreifen, besonders mit Weiß und dem ersten Zug. Einem Gambit folgte bei seinen Spielzügen häufig ein Figurenopfer, alles darauf ausgerichtet, einen stürmischen Angriff auf den gegnerischen König einzuleiten. Die Tatsache, dass es sich bei dem Gegner heute Abend um einen echten König handelte, beeinflusste ihn dabei keineswegs, denn Schafers Verhaltenskodex war zwar vielschichtig, aber unerschütterlich. Er war genauso darauf aus, Ailells schwarze Figuren zu dezimieren, wie er es bei jedem anderen auch gewesen wäre. Und in der schwermütigen, verletzlichen Stimmung, in der er sich in jener Nacht befand, war sein Spiel sogar noch aggressiver als sonst, denn über der kühlen Klarheit des schwarzweißen Spielbrettes versuchte er, seine Qualen zu vergessen. Also konzentrierte er sich erbarmungslos, und die weißen Figuren setzten zum Sturmangriff an.
Nur um auf eine Verteidigung zu treffen, die von ausgeklügeltem, wendigem Scharfsinn zeugte. Welcher Zersetzung Ailell auch anheim gefallen sein mochte, wie sehr seine Geisteskräfte und seine Autorität auch nachließen, wusste Paul doch bereits nach zehn Zügen, dass er es mit einem Mann von ehrfurchtgebietendem Können zu tun hatte. Langsam und geduldig ordnete der König seine Verteidigung, umsichtig sicherte er seine Stellung ab, und so kam es, dass sich Schafers ungestümer Angriff totzulaufen begann und unerbittlich zurückgeworfen wurde. Nach beinahe zwei Stunden Spielzeit nahm Paul resigniert den weißen König vom Brett.
Die beiden Männer entspannten sich in ihren Sesseln und wechselten zum ersten Mal seit Beginn des Spiels einen Blick. Und sie lächelten, wobei keiner der beiden wusste, da sie es nun einmal nicht wissen konnten, wie selten dies beim jeweils anderen vorkam. In diesem Augenblick der Gemeinsamkeit jedoch, als Paul den silbernen Kelch hob, um dem König seine Ehrerbietung zu zeigen, kamen sie einander über die Abgründe von Welten und Generationen hinweg näher, eröffneten die Möglichkeit von Banden, die es ihnen vielleicht ermöglicht hätten, einander zu verstehen.
Dazu kam es nicht, doch wurde etwas anderes in jener Nacht geboren, und die Früchte jenes wortlosen Spiels sollten das Gleichgewicht wie auch das Webmuster aller existierenden Welten verändern.
Ailell ergriff als erster mit heiserer Stimme das Wort. »Niemand«, bekannte er, »niemand hat mir je ein solches Spiel geliefert. Ich verliere niemals beim Ta’Bael. Heute Nacht war es beinahe soweit.«
Paul lächelte ein zweites Mal. »Beinahe. Vielleicht verliert Ihr beim nächsten Spiel tatsächlich – aber ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich. Ihr spielt wunderbar, Herr.«
Ailell schüttelte den Kopf. »Nein, ich spiele vorsichtig. Das Wunderbare war ganz auf Eurer Seite, aber manchmal gelingt es unermüdlicher Vorsicht, das Geniale zu zermürben. Als Ihr den zweiten Springer geopfert habt …« Ailell machte eine wortlose Geste. »Wahrscheinlich ist nur die Jugend zu so etwas fähig. Bei mir ist das schon so lange her, dass ich es vergessen zu haben scheine.« Er hob seinen eigenen Pokal und trank daraus.
Paul füllte beide Kelche wieder auf, ehe er antwortete. Er fühlte sich erschöpft, aber erleichtert. Der Vogel draußen, bemerkte er, hatte längst zu singen aufgehört. »Ich glaube«, entgegnete er dann, »dass es mehr eine Frage des Stils als der Jugend oder des Alters ist. Ich bin nicht sehr geduldig, deshalb
Weitere Kostenlose Bücher