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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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im Galopp dahinritt, überwältigt vom Anblick des Toten, im Kopf immer noch das Echo der Schreie. Coll, der neben ihm ritt, wirkte teilnahmslos und gelassen. Allerdings vermied er es sorgfältig, dem Blick Paul Schafers zu begegnen, der ihn unverwandt anstarrte und in dessen Gegenwart er selbst erst am vergangenen Abend ein Wort des Verrats ausgesprochen hatte.
     
    Anfang Frühjahr des Jahres 1949 hatte Dr. John Ford aus Toronto zwei Wochen Urlaub genommen von seiner Arbeit als Stationsarzt am Londoner St. Thomas Hospital. Auf einsamer Wanderung im Lake District nördlich von Keswick kam er am Ende eines langen Tages einen Hügel hinab und näherte sich mit müden Schritten einem Gehöft, das sich in den Schatten des Abhangs schmiegte.
    Im Hof stand eine junge Frau und schöpfte Wasser aus einem Brunnen. Die tiefstehende Sonne schickte ihre Strahlen auf das dunkle Haar. Als sie sich beim Geräusch seiner Schritte umdrehte, sah er, dass ihre Augen grau waren. Sie lächelte schüchtern, als er, den Hut in der Hand, um einen Schluck Wasser bat, und noch ehe sie mit dem Schöpfen fertig war, hatte John Ford sich verliebt, schlicht und unwiderruflich, wie es nun einmal seine Art war.
    Deirdre Cowan, in jenem Frühling achtzehn Jahre alt, hatte vor langer Zeit von ihrer Großmutter erfahren, sie sei dazu bestimmt, einen Mann von jenseits des Meeres zu lieben und zu ehelichen. Da allgemein bekannt war, dass ihre Großmutter über das Zweite Gesicht verfügte, zweifelte Deirdre nie an ihren Worten. Und dieser gutaussehende, zurückhaltende Fremde hatte Augen, die etwas in ihr wachriefen.
    Ford verbrachte jene Nacht im Haus ihres Vaters, und in der Dunkelheit vor dem Morgengrauen, als es am stillsten war, erhob sich Deirdre aus ihrem Bett. Es überraschte sie nicht, vor der Zimmertür ihre Großmutter vorzufinden, auch nicht die segnende Geste aus uralter Zeit, die sie die alte Frau ausführen sah. Sie betrat Fords Zimmer, und ihre grauen Augen verzauberten ihn, und ihr Körper strahlte süßes Vertrauen aus.
    Im Herbst wurden sie getraut, und John Ford führte seine Frau zu sich nach Hause, noch ehe der erste Schnee fiel.
     
    Und ihre Tochter war es, die nun, fünfundzwanzig Lenze nach dem Bund ihrer Eltern, in einer anderen Welt an der Seite eines Zwergs auf einen See zuschritt, ihrem eigenen Schicksal entgegen. Der Pfad zum See, an dem Ysanne lebte, wand sich in nördlicher und westlicher Richtung durch ein flaches Tal, gesäumt von sanften Hügeln, eine Landschaft, die bei normalem Klima wunderschön gewesen wäre. Doch Kim und Matt durchquerten ein ausgedorrtes, unfruchtbares Land – und der Durst dieses Landes schien Kim zu durchbohren, sich in ihrem Innern wie qualvoll zu winden. Ihr Gesicht schmerzte, ihre Knochen fühlten sich steif an und ungelenk. Jede ihrer Bewegungen war zunehmend mit Schmerzen verbunden, und wohin sie auch blickte, immer zuckten ihre Augen vor dem Anblick zurück.
    »Es stirbt«, sagte sie.
    Matt sah sie mit seinem einen Auge an. »Du spürst es?« Sie nickte steif. »Es ist mir unbegreiflich.«
    Die Miene des Zwerges war grimmig. »Die Gabe hat auch ihre dunklen Seiten. Ich beneide dich nicht.«
    »Worum beneidest du mich nicht, Matt?« Kim runzelte die Stirn. »Was ist das für eine Gabe?«
    Matt Sörens Stimme war sanft. »Macht. Erinnerungsvermögen. Wahrhaftig, ich bin mir nicht sicher. Wenn der Schmerz des Landes so tief eindringt …«
    »Im Palast ist es nicht so schlimm. Dort bin ich von alldem abgeschirmt.«
    »Wir können umkehren.«
    Einen Augenblick lang war Kim besessen vom heftigen, beinahe schon erbitterten Verlangen, tatsächlich zurückzukehren – den ganzen Weg zurück. Nicht nur nach Paras Derval, sondern nach Hause. Wo die Zerstörung des Grases und die abgestorbenen Blütenstängel nicht so in ihr brannten. Aber dann erinnerte sie sich an die Augen der Seherin, als sie in die ihren geblickt hatte, und hörte wieder die Stimme, die in ihren Adern pochte: Ich habe dich erwartet.
    »Nein«, entschied sie. »Wie weit noch?« »Um die Biegung. Bald können wir den See sehen. Doch warte, ich möchte dir etwas geben – ich hätte schon früher daran denken sollen.« Und der Zwerg hielt ihr einen aus Silber gewirkten Armreif hin, in den ein grüner Stein eingesetzt war.
    »Was ist das?« »Ein Vellin-Stein. Er ist sehr kostbar; es gibt nur noch wenige, und das Geheimnis ihrer Herstellung ist mit Ginserat verloren gegangen. Der Stein ist ein Schutz gegen Magie. Lege ihn

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