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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Tat, obwohl die Gesichter der Kinder beinahe unnatürlich ruhig wirkten, blickten die Erwachsenen, welche sich am Rande des Platzes oder unter den Bodengängen der Läden versammelt hatten, verwundert und erwartungsvoll drein. Und es strömten weitere Menschen herbei. Wieder hob das Mädchen im Innern des Kreises den Arm.
     
    Wenn das wandernde Feuer
    trifft auf das Herz aus Stern,
    wirst du dann folgen?
    Wirst du die Heimat verlassen?
     
    Und wieder hielt beim letzten Wort der Kreis inne. Diesmal zeigte der ausgestreckte Finger auf einen anderen Jungen, älter und schlaksiger als der erste. Nach kurzem, beinahe ironischem Zögern ließ auch er die Hände los, die er festgehalten hatte, und trat vor, um neben dem anderen Auserwählten Stellung zu beziehen. Ein Raunen erhob sich unter den Zuschauern, doch die Kinder, die scheinbar alles um sich her vergessen hatten, gingen wieder im Kreis umher.
    Aufgeregt wandte Jennifer sich dem teilnahmslosen Profil der Priesterin zu. »Was soll das?« fragte sie. »Was tun sie da?«
    Jaelle schenkte ihr ein dünnes Lächeln. »Das ist ein Tanz, bei dem es um Prophezeiung geht. In der Reihenfolge, mit der sie aufgerufen werden, liegt ihr Schicksal.«
    »Aber was –«
    »Seht nur!« Das Mädchen mit den verbundenen Augen hatte sich hoch aufgerichtet und wieder zu singen begonnen:
     
    Wenn das wandernde Feuer trifft
    auf das Herz aus Stein,
    wirst du dann folgen?
    Wirst du die Heimat verlassen?
    Wirst du dein Leben lassen?
     
    Diesmal durchlief, als die Stimme und der Tanz gleichzeitig aufhörten, ein tiefer Protestlaut die zuschauende Menge. Denn das Mädchen, auf das nun die Wahl gefallen war, war eines der jüngsten. Mit wehendem honigfarbenem Haar und einem fröhlichen Lächeln trat es in den Kreis neben die zwei Jungen. Der größere legte ihm den Arm um die Schultern.
    Jennifer drehte sich zu Jaelle um. »Was hat das zu bedeuten?« begehrte sie zu erfahren. »Was für eine Prophezeiung …?« Die Frage verhallte unausgesprochen.
    Die Priesterin neben ihr schwieg. Es lag keine Sanftmut in ihren Gesichtszügen, kein Erbarmen in ihren Augen, während sie zusah, wie die Kinder sich wieder in Bewegung setzten. »Ihr fragt, was das zu bedeuten hat«, sagte sie nach einer Weile. »Nicht viel, in diesen verweichlichten Zeiten, da ist Ta’kiena nichts weiter als ein Spiel. Heutzutage wird behauptet, dieser letzte Vers bedeute nichts anderes, als dass sie das Leben hinter sich lassen werden, das ihre Familie geführt hat.« Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, aber die Ironie in ihrem Tonfall nahm Jennifer wahr.
    »Was war es denn früher?« fragte sie. Diesmal wandte Jaelle sich ihr nicht zu. »Der Tanz wird von den Kindern schon länger ausgeführt, als man zurückdenken kann. In raueren Zeiten hat dieser Ruf natürlich den Tod bedeutet. Und das wäre doch schade. Ein reizendes Kind, nicht wahr?«
    In ihrer Stimme lag boshafte Belustigung. »Seht nur genau hin«, fuhr Jaelle fort. »Vor dem letzten Ruf haben sie allesamt Angst, selbst jetzt noch.« Und in der Tat, neben und hinter ihnen waren die Menschen, von gespannter Erwartung erfüllt, plötzlich völlig verstummt. Durch die Stille konnte Jennifer das Gelächter hören, das von dem Markt einige Straßen weiter zu ihnen herüberdrang. Jennifer kam es viel weiter entfernt vor.
    Dort in der Mitte des Kreises auf dem Rasen hob das Mädchen mit den verbundenen Augen den Arm und begann ein letztes Mal zu singen:
     
    Wenn das wandernde Feuer
    trifft auf das Herz aus Stein,
    Wirst du dann folgen!
    Wirst du die Heimat verlassen?
    Wirst du dein Leben lassen?
    Wirst du nehmen … den längsten Weg?
     
    Der Tanz endete.
    Mit unerklärlich klopfendem Herzen sah Jennifer, dass der schlanke Finger nun unbeirrbar auf den Knaben zeigte, der die Augenbinde dabeigehabt hatte. Indem er den Kopf hob, als lausche er irgendeiner fernen Musik, trat der Knabe vor. Das Mädchen nahm die Augenbinde ab. Lange sahen sie einander an, dann wandte der Knabe sich ab, legte wie zum Segen den übrigen Auserwählten die Hand auf die Stirn und verließ ganz allein den Rasen.
    Jaelle, die ihm nachblickte, trug zum ersten Mal ein besorgtes Gesicht zur Schau. Bei einem Blick auf ihre nun nicht mehr verstellten Züge erkannte Jennifer überrascht, wie jung die Frau neben ihr noch war. Sie wollte soeben eine Bemerkung machen, wurde jedoch durch ein Weinen davon abgehalten, und als sie den Kopf dorthin wandte, sah sie hinter ihnen in der Gasse eine Frau in der

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