Silbermantel
Tür eines Ladens stehen; Tränen rannen ihr über das Gesicht.
Jaelle folgte Jennifers Blick. »Seine Mutter«, sagte die Priesterin leise.
Jennifer fühlte sich gänzlich hilflos, und doch hatte sie instinktiv das Bedürfnis, die Frau zu trösten. Ihre Augen begegneten einander, und auf dem Gesicht der anderen Frau entdeckte Jennifer mit schmerzlichem, ganz neuem Verständnis die Essenz sämtlicher schlafloser Nächte, die eine Mutter zubringt. Eine Botschaft, ein Signal schien für eine kurze Sekunde lang zwischen ihnen zu stehen, dann wandte die Mutter des Knaben, der auserwählt worden war, den Längsten Weg zu gehen, den Blick ab und ging zurück in ihren Laden.
Jennifer, die mit etwas Unerwartetem zu kämpfen hatte, stellte schließlich Jaelle die Frage: »Warum leidet sie so?«
Auch die Priesterin wirkte ein wenig gedämpft. »Es ist schwer verständlich«, antwortete sie, »und ich verstehe es auch noch nicht ganz, aber sie haben den Tanz vor diesem Sommer bereits zweimal aufgeführt, sagt man mir, und beide Mal wurde Finn für den Längsten Weg auserwählt. Dies ist das dritte Mal. und in Gwen Ystrat lehrt man uns, dass ein dreimaliges Ereignis schicksalhaft ist.«
Jennifers Gesichtsausdruck machte die Priesterin lächeln. »Kommt«, schlug sie vor. »Wir können uns im Tempel darüber unterhalten.« Ihr Tonfall war, wenn auch nicht unbedingt friedfertig, so doch zumindest sanfter als zuvor.
Gerade als sie die Einladung annehmen wollte, wurde Jennifer durch ein Räuspern aufgehalten, das von hinten an ihr Ohr drang.
Sie drehte sich um. Diarmuids Mann hatte zu ihnen aufgeschlossen, und tiefe Besorgnis zerfurchte sein Gesicht. »Edle Frau«, sagte er äußerst verlegen, »vergebt mir, aber dürfte ich einen Augenblick unter vier Augen mit Euch sprechen?«
»Du fürchtest mich, Drance?« Jaelles Stimme glich aufs Neue einem Messer. Sie lachte. »Oder sollte ich sagen, dein Herr fürchtete mich? Dein abwesender Herr.«
Der vierschrötige Soldat wurde rot, blieb jedoch standhaft. »Ich habe Befehl erhalten, sie zu beschützen«, beschied er kurz und bündig.
Jennifer sah vom einen zum anderen. Plötzlich war die Luft von elektrisierender Feindseligkeit erfüllt. Sie war verwirrt, verstand überhaupt nichts mehr.
»Also«, wandte sie sich an Drance und versuchte, sich vorzutasten, »ich möchte vermeiden, dass Ihr Schwierigkeiten bekommt – warum geht Ihr nicht einfach mit uns?«
Jaelle warf den Kopf in den Nacken und lachte wieder, als sie sah, wie der Mann entsetzt zurückfuhr. »Ja, Drance«, bekundete sie mit schriller Stimme ihr Einverständnis, »warum gehst du nicht einfach mit uns zum Tempel der Mutter?«
»Edle Frau«, stammelte Drance und flehte Jennifer an. »Bitte, das wage ich nicht … doch ich muss Euch beschützen. Ihr dürft nicht dorthin gehen.«
»Ah!« triumphierte Jaelle mit hämisch hochgezogenen Augenbrauen. »Es sieht aus, als würden die Männer hier bereits darüber bestimmen, was Ihr tun könnt und was nicht. Vergebt mir meine leichtfertige Einladung. Ich dachte, ich hätte es mit einer freien Besucherin zu tun.«
Jennifer entging dieser Versuch einer Beeinflussung nicht, und sie erinnerte sich auch an Kevins Worte vorn Vormittag. »Hier gibt es einiges an Gefahren«, hatte er sie ernsthaft gewarnt. »Vertraue Diarmuids Männern, und natürlich Matt. Paul sagt, vor der Priesterin müsse man sich hüten. Geh nirgendwo ohne Begleitung hin.«
In den frühmorgendlichen Schatten des Palastes hatte das sehr vernünftig geklungen, aber jetzt, im hellen Sonnenschein des Nachmittags, roch die ganze Angelegenheit ein wenig nach Bevormundung. Wer war Kevin denn, dass er nacheinander sämtliche Hofdamen durchprobierte, dann mit dem Prinzen davongaloppierte und ihr obendrein vorschreiben wollte, sie habe sich still zu verhalten wie ein pflichtbewusstes kleines Mädchen? Und jetzt dieser Mann in Diarmuids Diensten …
Sie wollte gerade das Wort ergreifen, da erinnerte sie sich an etwas anderes. Sie wandte sich Jaelle zu. »Hier scheint man um unsere Sicherheit ehrlich besorgt zu sein. Ich möchte mich unter Euren persönlichen Schutz stellen, während ich Euren Tempel besuche. Wärt Ihr bereit, mich als Gastfreundin anzuerkennen, bevor ich mich dorthin begebe?«
Ein kurzes Stirnrunzeln zeigte sich auf Jaelles Gesicht, doch es wurde verscheucht von einem breiten Lächeln, und ihre Augen triumphierten.
»Selbstverständlich«, willigte sie liebenswürdig ein. »Selbstverständlich
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