Silbermantel
gestorben, und Pendaran verzeiht das niemals. Das ist eins der tiefsten Kümmernisse dieser Welt. So viel ist anders geworden … sogar das Licht. Früher war es heller, von der Farbe der Hoffnung, hieß es, als es geschaffen wurde. Dann starb Lisen, und der Wald hat sich verändert, und die Welt hat sich verändert, und nun scheint es vor Kummer zu leuchten. Dies ist das Schönste, was ich auf der Welt kenne. Es ist das Licht gegen die Finsternis.«
Kim blickte die weißhaarige Gestalt neben sich an. »Warum befindet der Reif sich hier?« fragte sie. »Warum liegt er unter der Erde verborgen?«
»Raederth hat ihn zu mir gebracht, ein Jahr, ehe er starb. Was er unternahm, ihn zu finden, weiß ich nicht – denn er ging verloren, als Lisen umkam. Lange Jahre blieb er verschwunden, und nie hat er mir die Geschichte erzählt, wohin er sich wandte, um ihn zurückzuholen. Doch er ist darüber gealtert. Es ist etwas vorgefallen auf dieser Reise, von der er nie sprechen konnte. Er bat mich, ihn hier aufzubewahren, zusammen mit den beiden anderen Gegenständen der Macht, bis der Ort, an den sie gehören, in einem Traum offenbart werde. ›Wer diesen Reif als nächstes trägt‹, prophezeite er, ›wird von allen Kindern der Welt oder der Sterne den finstersten Weg zu gehen haben.‹ Und er sagte kein weiteres Wort. Nun wartet er hier auf den Traum.«
Kimberly fröstelte, denn ein ganz neues Gefühl in ihrem Innern, ein Singen in ihrem Blut, zeigte ihr an, dass die Worte des toten Magiers eine Prophezeiung waren, die in Erfüllung gehen würde. Sie fühlte sich bedrückt, als trage sie eine schwere Last. Mit der Zeit wurde ihr das alles zu viel. Sie riss sich vom Anblick des Reifes los. »Was sind die anderen zwei Gegenstände?« fragte sie.
»Der Baelrath natürlich. Der Stein an deinem Finger.« Kim blickte auf ihn herab. Der Kriegsstein hatte, während sie sprachen, an Helligkeit zugenommen, und sein düsterer, dunkel blutiger Glanz hatte einem pulsierenden Schimmer Platz gemacht. »Ich denke, der Reif spricht zu ihm«, fuhr Ysanne fort. »Schon immer hat er in diesem Raum so geleuchtet. Ich habe ihn hier bei ihm aufbewahrt, bis zu jener Nacht, als ich träumte, du hättest ihn am Finger. Seit der Zeit wusste ich, dass bald seine Stunde kommen würde, und ich hatte Angst, seine erwachende Macht könne Kräfte herbeirufen, die im Zaum zu halten ich nicht in der Lage sein könnte. Daher habe ich Eilathen gerufen und ihn mit dem Feuer im Herzen der Bannblume verpflichtet, den Stein zu bewachen.«
»Wann war das?« »Das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her. Ein wenig mehr.«
»Aber – da war ich noch nicht einmal geboren!« »Ich weiß, Kind. Als erstes träumte mir von deinen Eltern, am Tag, als sie einander begegnet sind. Dann von dir, mit dem Baelrath an der Hand. Unsere Gabe als Seherinnen besteht darin, dass wir die Windungen durchwandern, die im Gewirk der Zeit vorkommen, und ihre Geheimnisse mit zurückbringen. Das ist keine angenehme Gabe, und du weißt bereits, dass sie sich nicht immer lenken lässt.«
Kim strich sich mit beiden Händen das braune Haar zurück. Ihre Stirn war gefurcht vor Besorgnis, die grauen Augen blickten gehetzt. »Das weiß ich wohl«, entgegnete sie. »Ich versuche, damit fertig zu werden. Was ich allerdings nicht … ich verstehe allerdings nicht, warum du mir Lisens Licht zeigst.«
»Falsch«, erwiderte die Seherin. »Wenn du aufhörst, darüber nachzudenken, wird es dir klar werden. Der Reif wird dir gezeigt, weil es dir zufallen könnte, zu träumen, wer ihn als nächstes tragen soll.«
Sie schwiegen. Dann: »Ysanne, ich lebe nicht hier.«
»Es gibt eine Brücke zwischen unseren Welten. Kind, ich sage dir nur, was du längst weißt.«
»Aber das ist es doch gerade! Ich beginne zu verstehen, was ich bin. Ich habe gesehen, was Eilathen für mich gesponnen hat. Aber ich stamme nicht von dieser Welt, sie liegt mir nicht im Blut, ich kenne ihre Wurzeln nicht so, wie du sie kennst, wie alle Seherinnen sie gekannt haben müssen. Wie sollte ich … wie könnte ich mir je anmaßen, zu bestimmen, wer Lisens Reif tragen soll? Ich bin eine Fremde, Ysanne!«
Sie atmete schwer. Die alte Frau betrachtete sie lange, dann lächelte sie. »Jetzt bist du es noch. Du bist doch soeben erst gekommen. Du hast recht, dein Wissen ist lückenhaft, aber darum mach dir keine Sorgen. Das ist nur eine Frage der Zeit.« Ihre Stimme war, wie ihre Augen, sehr liebevoll, als sie nun zum zweiten Mal log und ihre
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