Silbermantel
emporzuspähen, hob den verstümmelten Schädel im Mondlicht und schöpfte Kraft aus dem Mond, auf den er gewartet hatte. In jenem Augenblick spürte Paul Schafer, dass sich seine eigene verdorrte, ausgetrocknete Seele aufs Neue öffnete, um zu lieben, während er hinabblickte auf den Hund.
Zum zweiten Mal trafen sich ihre Augen, und dieses Mal zog Paul sich nicht zurück. Er nahm die Trauer in sich auf, die er sah, in ihrer Gesamtheit, den Schmerz, der für ihn erduldet worden war und lange vor seiner Zeit schon erduldet worden war, und er machte ihn sich, mit der Urkraft des Baumes, zu eigen.
»O Tapferkeit«, sagte er und bemerkte zugleich, dass er sprechen konnte. »Solch eine Tapferkeit kann es nie zuvor gegeben haben. Geh jetzt, denn nun ist die Reihe an mir, und ich werde Wort halten. Nun werde ich durchhalten bis morgen Abend, für dich wie für alles andere.«
Der Hund blickte ihn an, die Augen schmerzumwölkt, doch immer noch erfüllt von tiefem Verstehen, und Paul wusste, dass er gehört worden war.
»Leb wohl«, flüsterte er, und in diesen Worten lag eine gewisse Zärtlichkeit.
Und der graue Hund antwortete ihm, indem er den stolzen Kopf in den Nacken legte und heulte: ein Schrei des Triumphs und des Abschieds, so laut und helltönend, dass er den Götterwald durchdrang und als Echo weit darüber hinaus zu hören war, selbst über die Grenzen der Welten hinaus in Raum und Zeit geworfen wurde, dass er sogar für die Göttinnen vernehmbar sein mochte, die ihn verstehen würden.
*
In den Schankhäusern Paras Dervals verbreitete sich das Gerücht, dass es Krieg geben werde, wie Feuer in dürrem Gras. Svarts waren gesehen worden und riesige Wölfe, und Lios Alfar hatten sich in der Stadt aufgehalten und waren auf dem Land umgekommen. Diarmuid, der Prinz, hatte Rache geschworen. Überall in der Hauptstadt wurden Schwerter und Speere von dort hervorgeholt, wo sie lange Jahre vor sich hin gerostet hatten. Die Straße der Schmiede hallte des Morgens wider vom Klirren fieberhafter Vorbereitungsarbeiten.
Für Karsh, den Gerber, gab es jedoch noch andere Neuigkeiten, die selbst die Gerüchte in den Schatten stellten, und auf dem Gipfel seines Glücks hatte er nichts Besseres zu tun, als sich sinnlos zu betrinken und mit für ihn völlig uncharakteristischer Großzügigkeit jedem Mann, der sich auch nur in Hörweite befand, einen auszugeben.
Er hatte allen Grund, darin war man sich einig, schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass die Tochter eines Mannes als Altardienerin in den Tempel der Mutter aufgenommen wurde. Umso mehr, als Jaelle, die Hohepriesterin persönlich, sie für diese Aufgabe bestimmt hatte.
Das ist eine Ehre, riefen sie allesamt im Chor und prosteten Karsh inmitten der turbulenten Gespräche über den Krieg zu. Das bedeutet noch mehr, sagte der Gerber und erwiderte ihre Trinksprüche: Für einen Mann mit vier Töchtern war es ein Segen der Götter. Der Göttin, verbesserte er sich kauzig und gab für jedermann eine weitere Runde aus, mit dem Geld, das er bis zu jenem Tage für ihre Mitgift aufgespart hatte.
Im Innern des Heiligtums sank die jüngste Altardienerin soeben in den Schlaf völliger Erschöpfung. Während ihrer vierzehn Jahre hatte sie nie einen Tag erlebt, der dem gerade vergangenen glich. Tränen und Stolz, unerwartete Furcht und dann Lachen, das alles hatte dieser Tag gebracht.
Die Zeremonie war ihr ziemlich unverständlich geblieben, denn sie hatten ihr etwas zum Trinken gegeben, das den Raum mit der Kuppeldecke in sanfte Drehung versetzte, was jedoch kein unangenehmes Gefühl war. An die Axt erinnerte sie sich, an die Gesänge der graugekleideten Priesterinnen, deren eine sie nun bald werden sollte; und dann an die kalte, machtvolle Stimme der Hohepriesterin in ihrer weißen Robe.
Sie erinnerte sich nicht, wann sie geschnitten worden war, doch die Wunde an ihrem Handgelenk pochte unter dem Tuchverband. Das war notwendig, hatten sie ihr erklärt: Blut, das verpflichtet.
Leila machte sich nicht die Mühe, ihnen zu verraten, dass sie das längst wusste.
Lange nach Mitternacht erwachte Jaelle in der Stille des Tempels. Als Hohepriesterin von Brennin und eine der Mormae aus Gwen Ystrat war es ihr nicht möglich, zu überhören, was sonst in Paras Derval in niemandes Ohr drang, das unwirkliche Geheul eines Hundes, während der Mond herabschien auf den Sommerbaum.
Sie konnte es wahrnehmen, aber sie verstand es nicht, und sie wütete und tobte in ihrem Bett über
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