Silbermantel
ihr Unvermögen. Irgendetwas passierte da. Kräfte gingen um. Sie konnte spüren, dass Mächte sich zusammenbrauten wie ein Gewitter.
Sie brauchte eine Seherin, bei allen Namen der Mutter, sie brauchte eine. Doch es gab bloß das alte Weib, und das hatte sich verkauft. In der Dunkelheit ihrer Kammer verkrampfte die Hohepriesterin ihre langen Finger in tiefempfundener, endloser Erbitterung. Sie brauchte etwas, und es wurde ihr versagt. Sie war blind.
Ewige Verdammnis, fluchte sie wieder und lag die restliche Nacht über wach und fühlte das Zusammenbrauen, das Zusammenbrauen.
*
Kimberly glaubte zu träumen. Den gleichen Traum wie vor zwei Nächten, als das Geheul ihre Vision von Paul und Ailell gestört hatte. Sie hörte den Hund, doch dieses Mal erwachte sie nicht. Wäre sie aufgewacht, hätte sie gesehen, dass der Baelrath an ihrer Hand bedrohlich glühte.
In der Scheune, inmitten der dumpfen, vertrauten Gerüche der Tiere, erwachte Tyrth, der Diener. Einen Moment lang lag er da, ohne sich zu rühren, ungläubig, während das Echo jenes mächtigen Schreis in ihm verhallte, doch dann trat ein Ausdruck in sein Gesicht, der aus zahlreichen Elementen zusammengesetzt war, wenn auch vor allem anderen aus Sehnsucht. Er schwang sich aus dem Bett, kleidete sich rasch an und verließ die Scheune.
Er hinkte über den Hof und durch das Tor, das er hinter sich schloss. Erst als er die Baumreihe erreicht hatte und von der Hütte her nicht mehr zu sehen war, verschwand das Hinken. Worauf er zu rennen begann, sehr rasch, in Richtung des Donners.
Als einzige unter jenen, die den Hund hörten, wusste Ysanne, die Seherin, die ebenfalls wach in ihrem Bett lag, was dieser Aufschrei voller Schmerz und Stolz wirklich zu bedeuten hatte.
Sie hörte Tyrth den Hof überqueren, gen Westen hinken, und sie wusste auch, was das zu bedeuten hatte. Soviel unvermuteten Kummer gibt es, dachte sie, so viele verschiedene Dinge, die man bedauern muss.
Nicht zuletzt das, was sie jetzt endlich tun musste. Denn der Sturm war über sie gekommen; jener Schrei im Wald war der Vorläufer, und es war höchste Zeit, und diese Nacht würde Zeuge ihres Tuns werden, das sie vor langer Zeit vorhergesehen hatte.
Nicht um sich selbst trauerte sie; anlässlich des ersten Vorauswissens hatte sie tatsächliche Angst erlebt, und ein Echo dieser Angst, als sie das Mädchen im Großen Saal gesehen hatte, doch das war nun vorbei. Geheimnisvoll war es, aber nicht mehr furchterregend; seit langem hatte sie gewusst, was kommen würde.
Für das Mädchen dagegen würde es hart sein. Auf jede nur denkbare Weise würde es hart sein, aber gegen das, was heute Nacht mit dem Hund und dem Wolf seinen Anfang genommen hatte … Es würde für sie alle hart werden. Daran konnte sie nichts ändern; nur eines konnte sie tun.
Am Baum lag ein Fremder im Sterben. Sie schüttelte den Kopf; das war das Geheimnisvollste daran, und er war es, den sie damals zu deuten nicht imstande war, nicht dass das jetzt noch eine Rolle spielte. Was das betraf, so kam es nur auf das gelegentliche Donnern an, Donner aus einem wolkenlosen Sternenhimmel herab. Morgen würde Mörnir marschieren, falls der Fremde durchhielt, und niemand, niemand unter ihnen wusste zu sagen, was das bedeuten mochte. Der Gott befand sich außerhalb ihrer Reichweite.
Aber das Mädchen. Das Mädchen war eine andere Sache, und Ysanne konnte es sehen, hatte es viele Male gesehen. Sie stand leise auf, ging hinüber und beugte sich über Kim. Sie sah den Vellin-Stein an ihrem schlanken Handgelenk und den Baelrath, der an ihrem Finger glühte, und sie dachte an Macha und die Rote Nemain und an ihre Prophezeiung.
Dann dachte sie zum ersten Mal in dieser Nacht an Raederth. Ein alter, alter Kummer. Fünfzig Jahre, und dennoch. Einmal verloren, vor fünfzig Jahren am anderen Ende der Nacht, und jetzt … Doch der Hund hatte im Walde geheult, es war Zeit, höchste Zeit, und sie hatte seit langem gewusst, was kommen würde. Es gab keinen Schrecken mehr, nur noch Trauer, und die Trauer hatte sie immer begleitet.
Kimberly regte sich auf ihren Kissen. So jung, dachte die Seherin. Jammerschade war es, aber sie wusste wahrhaft keinen Ausweg, denn am vergangenen Tag hatte sie gelogen: Es war nicht bloß eine Frage der Zeit, ehe das Mädchen das Webemuster Fionavars so kennen gelernt hatte, wie es nötig war. Es konnte nicht sein. Oh, wie hätte es sein können?
Das Mädchen wurde gebraucht. Es war eine Seherin und noch mehr. Der
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