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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Übergang legte davon Zeugnis ab, der Schmerz, der dem Land innewohnte, die Offenbarung in Eilathens Augen. Sie wurde gebraucht, aber sie war nicht soweit, sie war nicht fertig, und die alte Frau kannte einen Weg, und nur den einen, wie sie das letzte vollbringen konnte, das zu tun war.
    Die Katze war wach und beobachtete sie mit wissenden Augen von der Fensterbank her. Es war sehr dunkel; morgen würde es keinen Mond geben. Es war Zeit, allerhöchste Zeit.
    Dann legte sie die Hand ganz ruhig auf Kimberlys Stirn, dorthin, wo sich die eine senkrechte Falte zeigte, wann immer sie sich Sorgen machte. Ysannes Finger, welche immer noch schön waren, zeichneten flink und unwiderruflich ein Zeichen auf die glatte Stirn. Kimberly schlief. Ein liebevolles Lächeln erhellte das Gesicht der Seherin, als sie sich zurückzog.
    »Schlafe, mein Kind«, raunte sie. »Du hast ihn nötig, denn dein Weg ist finster und feurig noch vor seinem Ende, und er wird dir das Herz brechen. Du sollst nicht am Morgen um meine Seele trauern; mein Traum ist vorbei, mein Träumen. Möge der Weber dich zu der Seinen erheben und dich während all deiner Tage vor der Finsternis beschützen.«
    Dann herrschte Stille im Raum. Die Katze sah vom Fenster her zu. »Es ist vollbracht«, sagte Ysanne, an den Raum gewandt, an die Nacht, an die sommerlichen Sterne, an all ihre Geister und an den geliebten Mann, der nun für immer zwischen den Toten verloren sein würde.
    Sorgsam öffnete sie die geheime Tür zur unteren Kammer und stieg langsam über die Steinstufen hinab, dorthin, wo Colans Dolch bereitlag, immer noch blank, eingehüllt in seine tausend Jahre alte Scheide.
    *
    Nun war der Schmerz überwältigend groß. Der Mond war über ihm vorbeigezogen. Sein letzter Mond, das wurde ihm klar, obwohl ihm das Denken schwer fiel. Das Bewusstsein wurde allmählich zu einem nur vorübergehenden Zustand, und wenngleich es noch lange dauern würde, begann er bereits jetzt unter Sinnestäuschungen zu leiden. Farben, Geräusche. Aus dem Stamm des Baumes schienen Finger gewachsen zu sein, rau wie die Rinde selbst, die sich um ihn schlossen. Er war jetzt überall in Berührung mit dem Baum. Einmal glaubte er eine ganze Weile, sich in ihm zu befinden und hinauszublicken, nicht etwa daran festgebunden zu sein. Er glaubte, er sei der Sommerbaum.
    Er hatte gewiss keine Angst vor dem Sterben, nur davor, allzu bald zu sterben. Er hatte einen Eid abgelegt. Aber es fiel ihm so schwer, bei Sinnen zu bleiben, am Willen festzuhalten, noch eine Nacht weiterzuleben. Es wäre soviel einfacher gewesen, aufzugeben, den Schmerz hinter sich zu lassen. Schon kamen ihm der Hund und der Wolf wie ein halber Traum vor, obwohl er genau wusste, dass der Kampf erst wenige Stunden vorbei war. An seinen Handgelenken klebte getrocknetes Blut, erinnerte daran, dass er versucht hatte, sich loszumachen.
    Als der zweite Mann vor ihm erschien, war er überzeugt, dass es sich um eine Vision handelte. Er war so weit entrückt. Öffentliche Zurschaustellung, spottete schwach ein Teil seines schwindenden Bewusstseins. Kommt und seht den Gehängten!
    Dieser Mann hatte einen Bart und tiefliegende dunkle Augen, und er schien nicht drauf und dran zu sein, sich in ein Tier zu verwandeln. Er stand bloß da und blickte zu ihm herauf. Was für eine langweilige Vision. Die Bäume lärmten im Wind; es donnerte, das konnte er spüren.
    Paul schüttelte mit großer Anstrengung den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Seine Augen schmerzten aus irgendeinem Grund, aber er war in der Lage, zu sehen. Und was er auf dem Gesicht der Gestalt dort drunten wahrnahm, war ein Ausdruck von so erschreckendem, unterdrücktem Verlangen, dass seine Nackenhaare sich sträubten. Er müsste doch wissen, um wen es sich hier handelte, gewiss müsste er es wissen. Wenn sein Verstand nur richtig arbeiten wollte, würde er es wissen, aber das war unmöglich, lag hoffnungslos weit außerhalb seiner Macht.
    »Du hast mir meinen Tod gestohlen«, sagte die Gestalt. Paul schloss die Augen. Er war dem zu weit entrückt. War den Weg zu weit gegangen. Er schaffte es nicht, sein Verhalten zu erklären, war zu nichts anderem fähig als zu dem Versuch, weiter durchzuhalten.
    Ein Eid. Er hatte einen Eid geschworen. Was war das, ein Eid? Noch einen Tag, das war es. Und eine dritte Nacht.
    Einige Zeit später schienen sich seine Augen wieder zu öffnen, und er entdeckte ungeheuer erleichtert, dass er wieder allein war. Am östlichen Himmel schimmerte es grau;

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