Silbermuschel
sicher bald da sein. Da er keine Einladungskarte hatte, würde man ihm den Eintritt in die Lounge verwehren. Aber von hier aus würde ich ihn sehen, sobald er aus dem Aufzug kam. Ein Kellner tauchte mit einem Tablett aus der Menge auf. Ich hielt ihn zurück.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Ja, danke schön.« Noriko sah auf. »Nein, keinen Wein. Lieber Orangensaft.«
Sie trank einen winzigen Schluck und hielt dabei die linke Hand behutsam unters Glas, um nichts zu verschütten.
»Ein großes Gedränge«, sagte ich.
»Ich kenne kaum jemand«, sagte Noriko. »Charles hat viele Verpflichtungen, aber ich gehe selten mit ihm aus.«
Sie streifte mich mit einem raschen Blick, der dann von mir aus weiterglitt; dabei veränderte sich Norikos Ausdruck kaum merklich, und doch nahm ihr Gesicht einen so harten Zug an, daß ich mich umdrehte, um zu sehen, wem dieser Unwille galt. Ich folgte ihrem Blick und sah Charles und Franca in einer Ecke vertraulich reden. Charles gestikulierte mit einer Zigarette in den Fingern. Franca lachte schallend, wölbte ihren weißen Hals und ihren Busen wie eine gurrende Taube. Ich biß mir leicht auf die Lippen. Natürlich weiß sie Bescheid, dachte ich.
Sie tat mir unendlich leid. Doch schon wandte Noriko den Blick ab; der blauschwarze Haarvorhang fiel schützend über ihr Gesicht.
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»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«
Ich bereute die Frage sofort. Noriko mochte sie als zudringlich empfinden.
Doch sie strich ihr Haar zurück, lächelte offen und wehmütig.
»Acht Jahre schon. Wir lernten uns in Paris kennen. Ich besuchte Kurse an der Alliance Française. Charles schrieb für eine Automobilzeitung.«
Sie kicherte plötzlich. »Damals trug er noch keine Brille und sah wie Alain Delon aus.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Deswegen haben Sie ihn geheiratet?«
Norikos Lachen klang so verlegen wie bei einem Schulmädchen, wobei sie nach japanischer Art die Hand vor den Mund hielt.
»Das ist normal, ne? Jedes Mädchen hat ein Idealbild im Kopf!«
»Aber Sie betrügen sich selbst«, sagte ich, »wenn Sie sich solche Illusionen machen.«
Sie nickte, wieder ganz ernst.
»Meine Familie stammt vom Land, aus dem südlichen Teil von Japan, Shikoku.
Und manchmal kommt es mir so vor, als ob ich dorthin gehörte und nicht nach Tokio. Es war mein erster Auslandsaufenthalt. Ich war jung und romantisch, voller unklarer Erwartungen. Meine Eltern hätten es vorgezogen, wenn ich einen Japaner geheiratet hätte. Aber sie wollten gut zu mir sein. Sie waren nicht streng genug.«
Ihr Blick verlor sich ins Leere.
Ich sagte: »Konnten Sie denn wissen, daß es falsch war, vorher?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich träumte alles Mögliche, aber mein Leben verlief ganz anders. Vielleicht wäre alles besser, wenn wir ein Kind hätten. Ja, ein Kind gäbe unserem Leben einen Sinn. Aber Charles kümmert sich nicht viel um das, was ich fühle. Ein Japaner würde wissen, wie wichtig ein Kind für eine Frau ist. Das Baby ist ein Teil von ihr, sie formt es mit ihrem Fleisch und Blut. Ein Japaner versteht das… «
Tief in mir lief ein seltsamer, warmer Schauer, pulsierte langsam vom Nabel aus bis zu den Schenkeln. Mein Mund wurde trocken. Ich trank einen Schluck.
»Und Charles?« fragte ich rauh.
Sie lachte bitter auf.
»Es ist ihm gleich.«
»Vielleicht ändert sich das mal.«
Sie warf die Haare zurück; ihre Augen glänzten feucht.
»Ich glaube kaum. Ich werde mich damit abfinden müssen, daß Charles stets ein Gaijin, ein Fremder, bleibt. Daß er meine Heimat, meine Kultur und mein Herz niemals wirklich kennen und lieben wird. Und sehen Sie, Julie-san, das tut weh, sehr weh.«
Seltsam, dachte ich, wer hätte wohl gedacht, daß wir dieses Gespräch führen würden? Norikos Offenheit verriet ein starkes Bedürfnis nach Mitteilung, dessen 174
ständiges Ungestilltsein ihr scheinbar großen Kummer bereitete. Charles war ein Holzklotz. Norikos Träume und Sehnsüchte würde er niemals verstehen.
»Es liegt nicht an Ihnen«, sagte ich. »Sie hatten ja keine Zeit zu überlegen und zu begreifen.«
Sie schüttelte den Kopf. Das Haar folgte geschmeidig der Bewegung.
»Nein. Ich war nicht anspruchsvoll genug. Und jetzt ist es zu spät.«
Es war eine nüchterne, zynische Feststellung. Und wiederum erriet ich, was sie mir nicht sagte; daß sie nicht mehr jung war, nicht schön genug, daß sie keinen anderen finden würde, daß sie sich in ihr Schicksal fügte. In Norikos schmerzlichem,
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