Silbermuschel
Er würde mich in seine Haare betten wie in einen Mantel. Ich würde alles vergessen.
Neues Zucken der Blitzlichter, neuer Applaus. Das Mikrofon wurde eingezogen, das Stimmengewirr schwoll wieder an. Noriko war irgendwo verschwunden. Leute drängten sich an mir vorbei. Es wurde viel geraucht. Die Luft wurde bläulich und stickig.
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Das Warten machte blind und taub, verwandelte die Gesichter in konturlose Schatten. Ich atmete wie bewußtlos, aber mit geschärften Sinnen, hellwach und träumend, mit Erinnerungen an Kinderschlaf und Kinderangst, Gefühle, gegen die ich nicht gewappnet war, die mich beunruhigten und überwältigten, bis jedes Stück Haut, vom Scheitel bis zur Sohle, sich vor Panik zusammenzog. Ken, wo bleibst du nur? Warum kommst du nicht?
Halb neun. Essenszeit. Die Gäste drängten sich um die reichen, von schönem Porzellan und Silber glänzenden Tafeln. Kellner brachten die Vorspeise: Langusten mit Artischocken-Mousseline und Gemüsegarnitur. Widerwillig führte ich einige Bissen zum Mund. Was ist nur los, Ken? Mußt du wirklich so lange wegbleiben?
Spürst du nicht, daß ich kaum noch warten kann? Die Sekunden werden zu Minuten, die Minuten zu Stunden. Was muß ich tun, um geduldig zu sein? Ich bin nicht geduldig, es ist zu schwer, ich schaffe es nicht. Und Franca, die mich ständig ansieht und sich ihren Teil denkt…
Die Kellner wechselten die Teller aus. Man servierte das Hauptgericht. Gefüllte Tauben mit Pistazienmus in Sherrysoße, Nudeln in Sepia-Tinte, grünen Spargel.
Noriko schnitt behutsam ein Stück Geflügel ab, kostete argwöhnisch und legte die Gabel wieder hin. Die Blonde in Goldlamé erklärte, warum sie Tokio nicht mochte. »Diese Stadt hat nicht den geringsten exotischen Flair. Alles ist mir zu sauber, zu funktionell. Chinesische Städte haben wenigstens Lokalkolorit. Die Straßen sind schmutzig, die Klos nicht zu beschreiben. Aber das ist noch Asien.
Hier ist die Verwestlichung total.«
Halb zehn. Namenlose Angst überfiel mich. Zum erstenmal flackerte der Verdacht in mir auf, daß Franca recht haben mochte. Daß es für ihn keine Liebe gewesen war, sondern nur ein Abenteuer. Sex mit einer Fremden, Neugier auf das Unbekannte. Er kann alle Frauen haben, die er will, hatte Franca gesagt, und ich war eine von ihnen gewesen. Aber nein, sprach mein Herz, das kann nicht wahr sein. Ich hätte es fühlen müssen! Ich hielt die Lippen fest geschlossen. Die Kellner räumten die Teller weg, servierten Käse, neue Weine. Ich wies den Käse zurück, bat um Wasser. Franca sah mich mit glänzenden Augen über den Tisch hinweg an.
Ihre Wangen waren vom Trinken gerötet.
»Du armes Ding!« sagte sie mit nachsichtigem Spott. »Hat er dich sitzenlassen?«
Ich holte tief Luft. Ich zitterte so stark, daß sie es sehen mußte.
»Er hat gesagt, daß es spät werden könnte«, log ich, verwundert über den fremden, brüchigen Klang meiner Stimme.
»Wir haben 36 Vulkane, und alle sind noch aktiv«, sagte der japanische Reporter im kehligen Englisch. »Rund tausendmal im Jahr bebt die Erde. Wir erleben im Durchschnitt 25 Taifune pro Jahr.«
»Entsetzlich!« murmelte Franca mit wollüstigem Schaudern. »Wie können Sie da noch ruhig schlafen?«
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Die Kellner fegten die Krümel auf den Tischen zusammen, brachten Nußeis mit warmer Schokoladensoße und Sahne dekoriert. Die Blonde in Goldlamé lehnte sich plötzlich vor. »Haben Sie noch nie das Fleischjunger Hunde gegessen? In Seoul haben wir es mal probiert, auf Holzkohlenfeuer gebraten und mit Knoblauch gewürzt. Schmeckt ungefähr wie Kaninchen. In Korea gehört Hundefleisch zu den sogenannten ›Hormongerichten‹. Soll eine aufmunternde Wirkung haben.«
Ich tupfte mir die Lippen ab, stand auf und ging in die Damentoilette. In der Stille des Waschraums rieselte sanfte Musik. Die rosa Kacheln glänzten im Licht.
Ich schloß mich in der Kabine ein, beugte mich über die Schüssel und erbrach mich. Schweißgebadet richtete ich mich wieder auf, schluckte die Galle, die mir in die Kehle gestiegen war. Wieder draußen, beugte ich mich über das Waschbecken, spülte meinen Mund aus, spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, ließ es über meine Handgelenke laufen. Als ich den Kopf hob, sah ich im Spiegel mein Gesicht, naß, als sei es mit Tränen bedeckt. Du hast das Wort Liebe gebraucht, als wüßtest du, was es besagt. Aber du bist wie alle anderen ein Lügner. Hast du schon vergessen, wie du mich geküßt hast? Wie bringst du das fertig?
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