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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sage, bei uns macht keiner Musik. Schade, sagt Manuel. Er selbst spielt Geige.
    Und seine Schwester Rebecca Klavier. Und seine Mutter Baßgeige. »Musik ist das Schönste«, meint er. »Musik bindet uns an Gott.« Ich frage: »Wie?« Er denkt nach.
    »Wir singen von dem Rhythmus, der im Weltraum ist. Sogar der Vogel singt in seinem Käfig. Musik heilt alle Schmerzen, macht uns frei und stark. Gott hört lieber auf unseren Gesang als auf unsere Worte. Hast du das niemals gefühlt?« Ich habe plötzlich eine Gänsehaut. Ich sage: »Doch. In der Kathedrale. Und auch draußen, im Garten, unter dem Kastanienbaum.«
    230
    »Gott ist überall«, sagt Manuel. »Ihn zu fühlen, darauf kommt es an.«
    Er bringt mir täglich neue Wörter bei; ich behalte sie alle im Kopf.
    »Wir nehmen uns viel zu wichtig, weißt du. Wir kommen uns klug und weise und einzigartig vor. In Wirklichkeit steckt in jedem von uns etwas Böses. Das stammt noch aus der Vorzeit, als unser Gehirn nicht vollständig entwickelt war.
    Mein Vater sagt, in der Religion nenne man es den Teufel. Wenn wir stark genug sind, besiegen wir ihn.«
    »Und dann?« frage ich.
    Sein Lächeln berührt mein Herz mit Wärme.
    »Dann werden wir Engel.«
    Kein Junge redet so. Nur Manuel. Er denkt wie ein Erwachsener. Vielleicht, weil er so lange krank war. Nach der Schule begleitet er mich ein Stück Weg. Wir laufen über den Boulevard des Lices, spielen Fangen um die Springbrunnen herum.
    Manuel kann nicht so schnell laufen wie ich. Seine Hüfte knickt nach innen, dann verliert er das Gleichgewicht. Wir setzen uns auf eine Bank, und nach einer Weile geht es ihm besser.
    Ich frage ihn, ob er sonntags eigentlich in die Kirche gehe. Er sagt, wir sind eine jüdische Familie, das ist etwas anderes.
    »Wieso?« will ich wissen. Er erklärt es mir. Er sagt auch, daß er der einzige jüdische Junge in seiner Klasse sei und daß manche Schüler ihn deswegen schikanierten. Sogar ein Lehrer sei unfreundlich zu ihm. Ich erlebe das auch, sage ich, weil ich rotes Haar habe. Manuel meint, wer anders ist, wird verspottet.
    Zwangsläufig, sagt er. Das sei überall so, auf der ganzen Welt, aber man gewöhne sich daran. Man würde sogar stärker dadurch. Es hinge nur von uns selbst ab.
    »Ob es das gibt«, fragt er mich eines Tages, »ein Leben nach dem Tod? Das wäre doch wunderschön, meinst du nicht auch?«
    »Im Herbst«, sage ich, »werden die Bäume kahl, als wären sie gestorben. So sehen sie den ganzen Winter aus. Aber im Frühling wachsen Knospen. Und bald gehen neue Blüten auf.«
    Er blickt mich überrascht an. Seine Augen leuchten.
    »Wie schön du das gesagt hast! So denke ich eigentlich auch. Aber die meisten Menschen haben Angst vor dem Tod.«
    »Du nicht?«
    Wir sitzen auf einer Bank vor dem Springbrunnen. Das Wasser tanzt und sprudelt. Manuel sieht zu, wie ein Vogel aus dem Marmorbecken trinkt.
    Schließlich sagt er:
    »Einmal, als ich hohes Fieber hatte, da war mir, als sähe ich ein großes Licht.
    Das Licht kam immer näher. Irgendwelche Gestalten bewegten sich darin. Angst hatte ich überhaupt nicht. Ich dachte nur, daß meine Eltern und Rebecca traurig sein würden. Vielleicht war das schon der Tod. Oder zumindest der Anfang.
    Irgendwie interessiert mich das. Zu wissen, wie es auf der anderen Seite 231
    aussieht…«
    Er lacht etwas verlegen. Ich sehe seine hübschen Zähne blitzen.
    »Du bist erst zwölf und dazu noch ein Mädchen. Eigentlich komisch, daß wir über solche Dinge reden. Aber du bist nicht wie andere. Du bist mon Amie la Rose.«
    Ich sage nichts. Meine Wangen werden heiß und pochen. Er legt mir den Arm um die Schultern, drückt flüchtig die Stirn an meinen Hals. Dann sitzen wir still nebeneinander, eine ganze Weile lang.
    Der Kastanienbaum blüht in rosiger Pracht, von Vögeln, kräuselnder Brise und tanzendem Sonnenlicht umspielt. Das Gras ist warm. Ich befühle mit den Fingerspitzen die zarte Glätte frisch entfalteter Blätter, die klebrige, seidige Weiche der Blütendolden. Im Zwielicht tanzen kleine Mückensehwärme; sie stechen erst später, im August. Auf den Flügeln eines Schmetterlings schillert ein Kaleidoskop transparenter Gelbtöne. Sonnenlicht zittert durch die Zweige, streichelt mit kleinen Wellen über meine Haut. Ich liege im süß duftenden Gras; wenn ich liege, spüre ich weniger, daß der Büstenhalter drückt. Ich möchte ihn ausziehen, ich möchte, daß die Sonne mich bescheint. Meine Mutter ist einkaufen gegangen, mein Vater ist

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