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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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daß wir unsere geistigen Fähigkeiten erwecken und schärfen können.«
    »Was sind Phänomene?« frage ich. »Und geistige Fähigkeiten? Was macht man damit?« Er erklärt es mir.
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    »Das ist doch ganz einfach«, meine ich. »Man muß nur ein paarmal in der Woche üben.«
    Er lacht.
    »Die meisten Menschen leben einfach drauflos und werden alt, ohne ihr Gehirn jemals richtig zu gebrauchen. Aber mon Amie la Rose ist das gescheiteste Mädchen der Welt!«
    Er neckt mich; ich kichere und werde rot. Trotzdem bin ich stolz, daß er das sagt.
    Halb acht. Ich gehe zur Schule. Nächste Woche beginnen die Prüfungen. Alle Schüler haben Angst. Ich nicht. Sie können ja nicht einmal gewöhnliche Zahlen im Kopf zusammenzählen, sondern schreiben mühsam alles auf. Oft muß die Lehrerin drei- oder viermal Dinge erklären, die für mich auf Anhieb klar sind. Dann gähne ich und schlafe fast ein. Aber meine Noten sind immer die besten. Es wird ein heißer Tag werden. Obgleich es noch früh ist, schwebt Staub in feinen Wirbeln über die Straße. Zwischen ockerfarbenen Fassaden drängt sich der Morgenverkehr.
    Vor den Cafés stehen Tische, Stühle und Sonnenschirme, aus dem Inneren duftet es nach warmen Hörnchen, Vanille und Kaffee. Die Frauen sind alle braun gebrannt, tragen bunte Kleider, Sandalen. Ihr offenes Haar weht im Wind. Die Männer kommen und gehen, die Zeitung unterm Arm. Sie verstecken ihr Gesicht hinter Sonnenbrillen, grüßen einander, winken sich zu. Auf dem Platz staut sich der Verkehr. Lastwagen donnern vorbei, wirbeln Hitze auf. Ich warte vor dem Rotlicht. Ich sehe Manuel auf der anderen Seite. Er sieht mich auch, hebt den Arm und winkt. Die Ampel wechselt auf Grün. Der Verkehr hält an. Manuel läuft mir über den Fußgängerstreifen entgegen. Ein Wagen rast in voller Fahrt auf ihn zu.
    Der Fahrer sieht das Stoppzeichen, bremst, daß die Reifen kreischen. Zu spät!
    Manuels Hüfte knickt nach innen, er kann nicht schnell genug auf die Seite springen. Ein lautes Krachen. Manuel wird auf die Kühlerhaube geschleudert und fällt auf die Straße. Ich stehe da, wie versteinert. Kaum, daß ich noch atme. Wagen halten an, Autotüren schlagen zu, Menschen kommen von allen Seiten gelaufen. In meinem Kopf brausen Wasserfälle, ich sehe alle Gesichter nur verschwommen.
    Manuel liegt halb unter dem Wagen. Sein Gesicht ist blaß und starr, seine Augen sind offen. Als ich näher trete, sehe ich Blut an seinem Haar kleben; auf dem Boden hat sich eine kleine Lache gebildet. Der Fahrer des Wagens ist ausgestiegen.
    Es ist ein junger Mann, hochrot im Gesicht, der wirre Worte stammelt und mit beiden Armen sinnlose Bewegungen macht. Schon hält ein Streifenwagen mit blinkenden Lichtern an. Ein Polizist steckt seine Trillerpfeife in den Mund und lenkt den Verkehr auf die andere Straßenseite. Manuels Schultasche liegt mitten auf der Straße. Ich gehe ganz ruhig zwischen den Wagen durch, hebe sie auf und stelle sie neben ihn. Dann drehe ich mich um und gehe weiter, als sei nichts gewesen.
    Der Schulhof ist voller Lärm. Ich setze mich auf die Mauer, unter den 234
    Platanenbaum, und warte auf ihn. Er wird sicher gleich da sein. Die Schulglocke läutet. Wir gehen in die Klasse. Die Schüler stehen in Gruppen herum. Einige sitzen schon an ihren Plätzen. Ich setze mich auch, packe meine Sachen aus, lege sie vor mir auf den Tisch. Die Lehrerin betritt das Klassenzimmer. Alle Schüler setzen sich. Der Unterricht beginnt. Manuel ist nicht gekommen. Wie ein Vorhang, der plötzlich zerreißt und das Licht durchdringen läßt, wird mir die Wahrheit bewußt. Mit einem Mal weiß ich, daß es nun immer so sein wird. Ich werde draußen auf der Mauer sitzen und warten und warten, und er wird nicht wiederkommen.
    Das Klassenzimmer dreht sich vor meinen Augen. Ich stehe aufrecht und halte mich am Tisch fest. Ich schnappe nach Luft, schreie und falle.
    Ich komme wieder zu mir und liege auf dem Boden. Die Schüler schütteln mich, schlagen mir auf die Wange. Die Lehrerin schiebt sie weg, hebt mich hoch.
    Man holt Essig, Alkohol. Ich werde ins Lehrerzimmer gebracht. Dort steht ein Liegesofa für die Mädchen, die ihre Tage haben. Die Lehrerin holt ein Taschentuch, befeuchtet mir Stirn und Wangen mit Kölnischwasser. Durch eine Tür sehe ich, wie der Rektor sich halblaut mit einem Polizisten in Uniform unterhält. Ich schließe die Augen und drehe mich auf die andere Seite. Später bringt mich der Hausmeister in seinem Wagen nach Hause. Manuel ist

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