Silbermuschel
bleiben. Ich frage: warum? Das Mädchen sagt, sobald der Bräutigam diese Sache mit der Braut tue, erwarte sie ein Kind. Und in dieser Zeit blute sie nicht mehr. Ich sage, ich hätte Hunde beobachtet, die so was machten. Ein Mädchen erzählt, sie hätte das mal bei einem Pferd gesehen. Alle krümmen sich vor Lachen. Ich habe starke Leibschmerzen. Die Stoffbinde scheuert mich wund. Ein Mädchen meint, Wegwerfbinden seien bequemer.
Im Garten huschen Eidechsen durch die Efeuranken; sie liegen flach in den Ritzen der Mauer; man sieht ihr Herz klopfen. Ich stehe im Schatten des Kastanienbaums, lehne mich an den Stamm, reibe mich, möchte unter seine Rinde kriechen. Ssssssst! flüstern die Blätter. Meine Mutter kommt an die Tür. Du bist verrückt, sagt sie. Du hast verdorbenes Blut in dir. Ich weiß, daß die Mutter meines Vaters verrückt war. Aber mein Vater spricht niemals über sie. Meine Mutter fängt plötzlich an, mir Einzelheiten zu erzählen. Meine Großmutter habe nur malen wollen, statt für ihre Familie da zu sein, wie es sich für eine anständige Frau gehöre. Und diese Bilder, die sie malte: einfach schrecklich! Sie hatte vier Fehlgeburten. Drei Kinder kamen gesund zur Welt. Jedesmal, wenn sie das jüngste gerade entwöhnt hatte, war sie im nächsten Monat wieder schwanger. Um die Kinder habe sie sich kaum gekümmert. Das Essen sei nie fertig gewesen, die Wäsche nicht gemacht. Die Unordnung im Haus, du kannst es dir nicht vorstellen!
Ihr Zustand habe sich immer mehr verschlimmert, zuletzt habe sie alles kaputtgeschlagen, die Gardinen zerfetzt und das Geschirr zertrümmert. Man habe sie schließlich in ein Irrenhaus eingeliefert. Ich frage: Was ist ein Irrenhaus? Sie erklärt es mir. Sie erzählt mir auch, wie meine Großmutter gestorben ist. Sie hat einen Haken in die Decke geschlagen und sich mit ihrem Leintuch erhängt. Ihre Halswirbel waren gebrochen. Meine Mutter sagt mir, ich sehe ihr ähnlich, sie habe auch so rotes Haar gehabt.
Meine Mutter verabscheut mein Haar. Sie kämmt es mir ganz straff nach 229
hinten, bindet es mit einem Gummiband im Nacken fest. Ich verziehe das Gesicht, weil es weh tut. Eine Schleife darf ich nur sonntags tragen.
Sie will auch nicht, daß ich meine Zeit im Garten vertrödle und mit dem Baum rede, als sei er ein Mensch. Was sollen denn die Nachbarn denken? Ich sage ihr, ich hätte gern einen kleinen Bruder, mit dem ich spielen könne. Sie erwidert, das geht nicht. Du hast etwas mit mir gemacht, als du geboren wurdest. Ich frage, was denn? Sie sagt, du hast mich innerlich zerrissen. Daß ich keinen Sohn mehr kriegen kann, ist deine Schuld.
Meine Brust schwillt stärker an und hüpft, wenn ich laufe. Das ist ziemlich schmerzhaft. Meine Mutter sagt, jetzt, wo es warm wird und du ohne Strickjacke gehst, mußt du einen Büstenhalter tragen. Sie geht mit mir in ein Warenhaus und sucht einen für mich aus. Ich probiere ihn in der Kabine an. Der Büstenhalter ist aus steifem Nylon und schnürt mir die Luft ab. Die Träger scheuern. Meine Mutter sagt, daran gewöhnst du dich. Und in ein paar Monaten mußt du einen festeren tragen. Die Brust darf sich nicht bewegen, wenn du gehst, sonst sprechen dich die Jungen an.
Sie weiß nicht, daß ich täglich mit einem jungen rede. Manuel Levy ist fast zwei Jahre älter als ich; er geht in eine höhere Klasse. Er hat schwarze Locken, ganz schmale Schläfen. Sein Gesicht ist blaß, die Augen dunkel und glänzend. Er ist sehr dünn und zieht das linke Bein nach. Deswegen tobt er nicht mit den anderen herum. Er kam eines Tages zu mir, in der Pause, als ich auf der Mauer des Schulhofs saß. Ich blinzelte, den Kopf zurückgelehnt, und blickte einem Storch nach, der über die Dächer kreiste, da hörte ich plötzlich eine Stimme. Als ich hinsah, stand Manuel vor mir.
»Du sahst so hübsch aus«, sagte er mir später. »Wie eine Rose.« Ich sagte nicht, du bist blöde. Ich sah ihn nur an. Er setzte sich zu mir und erzählte mir, daß er krank gewesen war. Kinderlähmung. »Hat es weh getan?« fragte ich.
»Eigentlich nicht. Aber ich hatte wochenlang Fieber.« Er sagte, daß er ein halbes Jahr nicht in die Schule konnte. Jetzt müsse er eine Klasse wiederholen.
»Und das Bein?« fragte ich.
»Ich soll Sport treiben. Schwimmen. Dann wird es besser.« Das war im April.
Seitdem reden wir jeden Tag zusammen. Manuels Vater ist Arzt. Neurologe. Ich frage: »Was ist das?« Er erklärt es mir. Er will wissen, ob ich ein Instrument spiele.
Ich
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