Silbermuschel
noch nicht da. Ich ziehe mein T-Shirt über den Kopf, hake meinen Büstenhalter auf, knülle ihn zusammen. Mit nacktem Oberkörper liege ich unter dem Baum; ich streichle meinen kleinen Busen, die Achselhöhlen, die Schultern. Meine Haut ist seidenweich und etwas klebrig, wie die Kastanienblüten. Grüne Funken glitzern unter dem Blätterdach. Kurino-Ki, ich liebe dich. Oder liebe ich auch Manuel? Ich weiß nicht, was ich fühle. Ich möchte, daß Manuel mich in die Arme nimmt, daß er mich küßt. Ich stelle mir vor, wie es sein könnte. Die Spitzen meiner Brust werden kleiner, härter. Die Sonne kreist über mir, der Baum lebt, die Erde lebt. Ich bin eins mit der Erde, eins mit dem Baum und eins auch mit Manuel. Alles ist lichtdurchströmt, jubelnd und schwirrend. Alles gehört zusammen, alles ist rund. Eine grüne Sonne flimmert über der Baumkrone, die Zweige tanzen und wispern. Ich trinke alle Farben und Gerüche, mein Inneres flirrt wie eine Libelle, ich schaukle in einem Netz aus Luft und grünem Licht. Ich öffne den Reißverschluß meiner Jeans. Meine Hand tastet über meinen Bauch, den Nabel entlang, unter meinen Baumwollschlüpfer. Meine Finger umkreisen das kleine Dreieck mit dem zarten Flaum, zögernd, etwas ängstlich. Ich weiß nicht, ob ich mich hier unten berühren darf. Ich habe es noch nie getan, auch nicht nachts im Bett. Jetzt möchte ich es frei legen, es streicheln.
Ich möchte, daß die grüne Sonne ganz in meinen Körper dringt. Mein Finger gleitet tiefer, berührt die Spalte. Sie fühlt sich weich und sanft an. Der Finger dringt tiefer ein, in warme Feuchtigkeit. Ich drehe den Finger langsam im Kreis.
Das Netz schaukelt stärker, hebt mich hoch, der grünen Sonne entgegen. Ich schwebe höher, noch höher, gewichtslos und frei, einer Blütenwolke entgegen, lichtdurchströmt und wunderbar.
232
Plötzlich höre ich etwas. Ein Geräusch. Eine Bewegung. Mein Rückgrat kribbelt. Aus meinen Poren dringt Feuchtigkeit. Ich öffne die Augen und setze mich hoch. Mein Vater steht an der Haustür. Er kommt nicht näher an mich heran.
Er steht einfach da und schaut.
Die Schüler machen Bemerkungen über Manuel und mich. Die Mädchen zeigen auf uns und tuscheln. Einige Jungen schreien: »Küßt euch, küßt euch! Wann küßt ihr euch endlich?« Zu Manuel sind sie sehr brutal. Sie gehen mit Fäusten auf ihn los und treten ihn. Manuel wehrt sich nur ungeschickt, das macht sie noch wilder. Mich ziehen sie an den Haaren. Oder sie greifen mir unter den Rock und kneifen mich in die Brust. Manuel schreit, sie sollen mich in Ruhe lassen.
Manchmal habe ich blaue Flecken.
Wir sitzen auf der Mauer, wie üblich. Manuel fragt mich:
»Was tust du eigentlich nach der Schule?«
Ich schäme mich, weil mir auf Anhieb nichts einfällt. Manuel interessiert sich für so viele Dinge. Er spielt Geige oder Schach. Er hat zum Geburtstag ein Teleskop bekommen. Er sieht den Mond und die Sterne ganz nahe und auch die Lichter der Satelliten, wenn sie über Südfrankreich kreisen. Und in seinem Zimmer hat er drei Aquarien voller Wasserpflanzen und Zierfische, die er selbst reinigt. Ich nage an meiner Unterlippe. Schließlich sage ich:
»Ich spiele im Garten.«
»Ach so!«
Er lacht etwas geringschätzig. Da erzähle ich ihm von meinem Lieblingsspiel: den Kastanienbaum ansehen, die Augen schließen und dann den ganzen Baum im Kopf haben. Besseres kommt mir nicht in den Sinn. Manuel starrt mich an. Im Ernst, bringst du das fertig? Ich sage ja. Er pfeift zwischen den Zähnen.
Menschenskind, das muß ich auch mal versuchen. Er konzentriert sich auf den Platanenbaum über uns. Nach einer Weile schüttelt er den Kopf.
»Unmöglich! Das schafft kein Mensch!«
Ich sage, daß ich so lange geübt habe, bis ich es konnte. Und daß ich es mit allen möglichen Sachen mache. Mit Kirchenfenstern, mit Vogelschwärmen oder auch mit Leuten. Ich merke, daß er mir nicht glaubt. Da sage ich, also gut, ich zeige es dir. Ich sehe mir ein paar Kinder an, schließe fest die Augen und erkläre ihm ganz genau, wie sie aussehen, was sie anhaben und was sie jetzt gerade tun.
Dann öffne ich die Augen, blinzle ihn triumphierend an. Da, siehst du! Manuel ist zuerst sprachlos. Schließlich sagt er, er könne das nicht so gut beurteilen wie sein Vater, aber scheinbar habe mein Gehirn besondere Kräfte entwickelt.
»Mein Vater sagt, daß die Leistungen unseres Gehirns noch kaum erforscht sind. Daß wir über viele Phänomene nicht Bescheid wissen. Und
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