Silbermuschel
tot. Am nächsten Morgen steht es in der Zeitung. Sogar meine Eltern reden davon. Er ist der Sohn von Professor Levy, sagt mein Vater. Du weißt doch, Marie-Anne, der Gehirnspezialist. Soll ein sehr begabter Junge gewesen sein. Er besuchte die gleiche Schule wie Julie. Du hast ihn doch sicher auf dem Schulhof gesehen, nicht wahr, Julie?
Ich schweige. Die Augen halte ich hartnäckig gesenkt. Mein Vater drückt seine Zigarette aus und faltet die Zeitung zusammen.
»Schade um den Jungen!«
»Na ja, die Juden…«, sagt meine Mutter.
Manuel ist tot; es ist meine Schuld. Er hat nicht auf den Verkehr geachtet, weil er mich sah. Wie sonderbar, daß ich nicht weinen kann! Mir schmerzt der Hals, daß ich fast ersticke. Meine Augen brennen, aber bleiben trocken. Ich denke an Manuels Eltern, an seine Schwester, an den Kummer, den sie jetzt haben. Und alles ist meine Schuld.
Manuel wird auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Nur einige Schüler aus seiner Klasse gehen hin. In der Schule mahnen uns die Lehrer, im Verkehr besser aufzupassen. Und dann ist alles wie sonst. Von Manuel redet keiner mehr. Er ist verschwunden, vergessen. Als ob er niemals existiert hätte. Ich aber sitze da, starre die Mitschüler an, höre nicht, was sie sagen, kann kaum schreiben, kaum lesen.
Nachts liege ich wach, tagsüber schlafe ich ein. Ich gehe umher wie eine Schlafwandlerin, mit heißen Augen und einem Kloß im Hals. Habe ich Manuel wirklich gekannt? Oder habe ich ihn mir nur eingebildet? Dieses Gefühl ist ganz 235
unerträglich.
In der Nacht wache ich auf; es ist Neumond, alles ist dunkel. Ich wache auf aus einem ganz bestimmten Grund: Mein Gesicht ist heiß und naß. Tränen quellen unter meinen Lidern hervor, laufen mir über die Wangen. Ich weiß nicht einmal, ob ich von Manuel geträumt habe. Ich merke nur, daß ich zittere und weine.
Krampfhafte Seufzer heben meine Brust, meine Nase ist verstopft, ich atme stoßweise durch den Mund. Schluchzend setze ich die Füße auf den Boden, hole mir ein Taschentuch aus der Kommode. Ich putze mir die Nase und gehe zum Fenster, das halb offen steht, um Kühle hereinzulassen. Ich drücke das Taschentuch an mein Gesicht und starre ins Dunkel. Der Kastanienbaum hebt sich vom Nachthimmel ab. In den Zweigen haben sich Sterne verfangen. Über seiner Krone flimmert weißes Licht, als ob der Baum einen eigenen schwachen Schimmer ausstrahle. Ich beuge mich hinaus. Es gibt keinen Lufthauch. Ich glaube plötzlich, Manuel sei in dem Licht, das über der Blätterkrone schwebt. Der Kastanienbaum hat ihn angezogen, zu mir geleitet, irgendwie. Und ebenso plötzlich weiß ich, daß Manuel mir nicht böse ist. In dieser Nacht weiß ich ganz bestimmt, daß er nicht meinetwegen starb; daß es sein Schicksal war, an diesem Sommertag auf dem Schulweg zu sterben. Und vielleicht hatte er bereits eine Ahnung davon, an jenem Nachmittag, als wir vor dem Springbrunnen saßen und über den Tod sprachen. Im Herbst fallen die Blätter und im Frühling wachsen neue, hatte ich damals gesagt, und er hatte das schön gefunden. Manuel ist jetzt auf der anderen Seite, im Licht.
Ich bin überzeugt, er ist glücklich dort, wo er ist, und will es mich wissen lassen.
Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Meine Haut fühlt sich heiß an und spannt. Ich bin dankbar, daß ich Manuel gekannt habe, daß ich mit ihm eine kurze Strecke meines Lebens gehen konnte. In meiner Erinnerung wird er ewig vierzehn Jahre alt sein, schwarze Locken haben und mit mir auf der Mauer sitzen. Er war mein Freund; er würde nie der Freund eines anderen Mädchens sein.
Ein leichter Windhauch kommt auf. Ich klatsche zweimal in die Hände, weil ich will, daß er mich hört. Fast ist es mir, als könne ich sehen, wie sich das Geräusch dem Licht entgegen bewegt. Über dem Baum zittert der blasse Schein, die Sterne funkeln heller. Ich rufe ganz leise seinen Namen, Manuel. Und dann sage ich es ihm. Daß ich ganz schreckliche Angst habe. Daß ich allein bin, daß der Teufel ganz nahe ist. Und daß er mir einen Engel schicken soll, der mich beschützt.
236
17. KAPITEL
D ie Prüfungen sind vorbei. Mein Zeugnis ist das beste der Klasse, wie üblich.
Es ist schon so, ich habe nie Schwierigkeiten beim Lernen. Die Ferien. Ich habe sie nie gemocht. Alle Schüler verreisen, und wenn es nur nach Saintes-Maries-de-laMer ist. Die meisten gehen nach Spanien oder an die Côte d’Azur. Wir fahren nicht in die Ferien, weder ans Meer noch in die Berge. Wir haben
Weitere Kostenlose Bücher