Silbermuschel
sagen, ich solle mir einen Termin beim Analytiker geben lassen. Er behauptet, ich sei nicht ganz normal. Und manchmal habe ich auch diesen Eindruck.«
»Warum habt ihr eigentlich keine Kinder?« fragte Paul.
Ich schlug die Augen nieder.
»Ich habe nie aufgehört, mir ein Kind zu wünschen. Es liegt an mir, nehme ich an. Bruno wollte, daß ich mich behandeln lasse. Der Arzt sagte, ich sei völlig gesund, meine Unfruchtbarkeit sei psychischer Natur. Ich glaube, ich töte alles Leben in mir, in jeder Beziehung.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Paul.
»Mich kann keiner verstehen«, sagte ich hart. »Nicht einmal ich selbst. Ich bin nicht so geboren worden, aber jetzt ist es nun einmal so. Und inzwischen lebe ich dahin und warte auf etwas, das nie kommen wird. Und auf die Dauer, siehst du, ist 26
das sehr deprimierend.«
Ich stockte; ich hatte schon zuviel gesagt. Er starrte mich an und lächelte plötzlich selbstgefällig.
»Vielleicht hat dein Warten jetzt ein Ende?«
Eine vage Unruhe beschlich mich. Ich spürte einen Schmerz, fein wie ein Nadelstich. Klar versteht er mich nicht, dachte ich. Wie sollte er auch? Ich sagte ihm ja nicht die volle Wahrheit. Aber er ist nett, und das Leben mit Bruno ist ziemlich abscheulich. Ich wollte ihn nicht verlieren.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich.
Von da an sahen wir uns oft. Es kam fast von selbst, daß wir uns beim Gehen an der Hand hielten. Eines Nachmittags, als wir im Hafen von Lutry die Schwäne beobachteten, beugte sich Paul plötzlich vor und küßte mich auf die Wange. Leicht drehte ich das Gesicht zu ihm hin, und wir küßten uns auf den Mund, bevor wir eine Weile ganz still standen.
»Ich möchte dein Leben nicht komplizierter machen, als es ohnehin schon ist«, brach Paul endlich das Schweigen. »Wenn du jetzt meinst, daß wir uns lieber nicht Wiedersehen sollten, würde ich es akzeptieren.«
Ich dachte darüber nach, einige Atemzüge lang. Dann hob ich den Kopf und erwiderte fest und voll seinen Blick.
»Mach dir deswegen keine Sorgen.«
Er legte mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. »Morgen gehen wir nach Montreux. Ich möchte, daß du mein Schiff kennenlernst.«
»Warum will Bruno sich eigentlich nicht scheiden lassen?« hatte er mich am nächsten Tag auf der »Stella« gefragt. Ich nahm einen Schluck Gin. Die Wärme tat mir gut.
»Er ist katholisch.«
»Du nicht auch?«
Ein Schauer durchlief mich. Meine Arme bedeckten sich mit Gänsehaut, und ich wich der Frage aus.
»Es geht nicht darum. Ich hätte Bruno längst verlassen sollen, schon vor Jahren, als ich mir noch etwas zutraute.«
»Du schreibst ausgezeichnete Texte. Und deine Schwarzweißbilder haben Profi-Niveau. Das ist kein leeres Kompliment. Du weißt, daß ich mich darin auskenne.«
Vor ein paar Jahren hatte ich an einem Fotokurs teilgenommen und mir einen Duschraum als Dunkelkammer eingerichtet. Meine Bilder entwickelte ich selbst.
»Kann ich davon leben?« fragte ich. »Und was unser Intimleben betrifft…
Bruno bezeichnet Sex als primitiv, will aber, wie er sagt, seinen Spaß haben, und mit mir kommt er nicht mehr auf seine Kosten. Ich ertrage ihn nicht mehr.«
Paul nahm einen Schluck.
»Wie lange geht das schon so?«
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»Ich merkte schon von Anfang an, daß etwas mit uns nicht stimmte. Ich dachte, es läge an mir.«
»Warum hast du ihn eigentlich geheiratet?«
Ich drückte die Hand an den Kopf.
»Ich war sehr jung…«
»Keine Seitensprünge inzwischen? Keinen Lover mal so nebenbei?«
»Ich sagte dir ja schon, Abenteuer liegen mir nicht.«
»Und Bruno?«
»Wenn du wissen willst, ob er mich mit anderen Frauen betrügt, kann ich dir nur sagen, ich weiß es nicht. Was er auf seinen Geschäftsreisen treibt, ist mir egal.
Er kann von mir aus hundert Frauen haben, wenn ich bloß nicht eine von ihnen sein muß! «
»Du bist sehr offen«, sagte Paul.
»Ich spiele nur nicht gern die Scheinheilige. In unseren Breitengraden wird die Sexualität als Zeitvertreib oder als Hygiene, wie das Zähneputzen, betrieben. Mir käme der Ausdruck ›Spaß‹ in bezug auf Sex nicht einmal in den Sinn. Sex ist…
etwas anderes. Aber ich bin in diesen Dingen nicht normal.«
»Wer ist normal?« Paul lächelte sein freundliches Lächeln. »Die meisten Leute hören nicht auf sich selbst, sondern schielen ängstlich auf die Norm und messen sich am Durchschnitt. Ich persönlich bringe die Bereitschaft nicht auf, mich überall anzupassen. Eine ziemlich erboste Freundin
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