Silbermuschel
krümme mich vor Lachen, ich schreie ganz laut, und dann übergebe ich mich im Bett und schluchze und würge und spucke.
Mein Vater hat seine Hose wieder an. Er atmet keuchend. Seine Augen schweifen umher. Das Zimmer ist ein einziges Chaos. Der Schrank steht mitten im Raum, alle Kleider liegen am Boden zerstreut, sämtliche Schubladen sind ausgeleert. Nur das Kruzifix hängt an der Wand. Seltsam, daß es nie herunterfällt.
Ich blicke meinem Vater ins Gesicht. Er hat die Züge eines Mannes, der nicht glauben kann, was er sieht. Seine Lippen zittern, er schwankt benommen hin und her. Er stößt mit einer Stimme, die ich niemals gehört habe, wirre Worte zwischen den Zähnen hervor. Er sagt, du bist nicht normal, du bist verrückt. Dies wiederholt er mehrere Male; ich weiß, daß er an meine Großmutter denkt. Und er sagt auch andere Sachen, das meiste davon habe ich vergessen. Er sagt, meine Tochter ist eine Hexe, ein Ungeheuer, eine Ausgeburt der Natur. Ich fühle, daß er Angst vor mir hat. Das ist neu. Das gefällt mir. Seine Angst macht mich stark und ruhig. Ich denke ganz fest an die Füchsin, hebe den Kopf und knurre ihn an. Als er zuschlägt, verspüre ich keinen Schmerz, nicht den geringsten. Ich kauere im Bett, er beugt sich über mich, sein Oberkörper wirkt ebenso breit wie der Schrank, sein Gesicht 251
ist kreidebleich im Mondlicht, seine geröteten Augen beinahe schwarz umrandet.
Er schlägt mich ins Gesicht, und ich weiche dem Schlag nicht aus. Ich verspüre keinen Schmerz, nicht den geringsten. Er schlägt wieder und wieder zu, und ich sehe nur Blitze durch mein Gehirn zucken, dazwischen klaffen Bruchstücke absoluter Schwärze. Sie verändern ein wenig die Form, fallen herab und verschwinden. Und plötzlich ist alles vorbei. Keine Geräusche sind mehr jetzt, auch keine Gefühle. Körperlos und ruhig treibe ich in dunklen Fluten, die seewärts abziehen und mich in den Tod mitnehmen.
»… et au matin, le loup l’a mangée.«
Die Zeit ist nicht mehr. Ich weiß nicht, welche ist. Warum lebe ich noch, obwohl ich längst tot sein sollte? Ich habe saubere Wäsche an, mein Bett ist frisch überzogen. Ich habe Fieber und ganz entsetzliche Kopfschmerzen. Ich schluchze und stöhne.
»Hilf mir, ich bitte dich, hilf mir!«
Aber du bist weit weg. Du kommst nicht wieder. Ich habe dich verloren. Meine Seele will sich zurückziehen, ins Grab, aber mein Körper ist jung und will nicht sterben.
Meine Mutter ist wieder da. Ich sehe ihr blasses Gesicht, die schwarzen Brillengläser. Nur die blutlosen Lippen bewegen sich. Was hast du deinem Vater nur angetan? Du bist verrückt, du bist eine Hure, schon mit zwölf. Was soll nur aus dir werden? Weißt du denn nicht, daß dich jetzt kein Mann mehr will? Was habe ich dem Herrgott nur angetan, daß ich ein Hexenkind zur Welt bringen mußte? Oh, Himmel, wenn das die Leute erfahren! Du hast dich vor deinem Vater gestreichelt, hast im Gras gelegen und ihm deine Brust gezeigt. Und ich habe dir doch gesagt, du solltest immer einen Büstenhalter tragen. Ich wollte doch nur das Beste für dich, was habe ich nicht alles für dich getan! Und du rufst deinen Papa nachts in dein Zimmer, damit er dir gute Nacht sagt. Du weißt doch, daß er trinkt. Und wenn er trinkt, tut er Dinge, die er später bereut. Er kann nichts dafür, das liegt in seiner Natur. Gott hat es so gewollt, alle Männer sind unersättlich. Wir Frauen haben diesen Fluch zu tragen. Aber der Fehler liegt einzig bei dir, du bist schamlos und triebhaft und verdorben, genau wie deine Großmutter. Du schlägst alle Möbel kaputt, du beißt deinem Papa in die Hand, daß man den Knochen sieht und er kaum noch schreiben kann. Du bist kein Mädchen, du bist ein Raubtier. Und jetzt liegst du da und erbrichst dich und machst dich naß wie ein Säugling. Und nächste Woche fängt die Schule wieder an. Was soll ich nur der Lehrerin sagen?
Die Zeit ist nicht mehr. Ich weiß nicht, welche ist. Manchmal krieche ich auf dem Boden umher. Ich verstecke mich unter dem Bett oder unter dem Schrank. Ich reiße die Tapete ab, ich ziehe sie in Fetzen herunter. Ich kratze den Gips von der Wand. Meine Nägel zersplittern, meine Finger bluten. Ich lecke das Blut, es schmeckt salzig wie Tränen. Das ganze Bett ist verschmiert, ich bin schmutzig, ich stinke. Ich mag meinen Gestank. Er zeigt mir, daß ich noch am Leben bin.
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Meine Mutter sagt, Heilige Jungfrau, was nun? Wenn du nicht wieder normal wirst, müssen wir dich in ein Heim
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