Silbermuschel
brauchst keine Angst mehr zu haben, bald geht es dir besser.« Sie heißt Schwester Claire. Sie wäscht und füttert mich. Sie steckt abends die Decke um mich fest, setzt sich und hält meine Hand. Sie bleibt bei mir, bis ich eingeschlafen bin.
Die Schmerzen vergehen. Die Zeit kommt wieder. Die Tage, die Nächte, der Regen und der Sonnenschein. Ich sitze im Bett. Ich habe frische Wäsche an. Mein Nachthemd duftet sauber. Schwester Claire bringt mir Früchte und lustige Bücher von der »Bibliothèque Rose«. Sie sagt, ich solle nicht grübeln. Ich habe kein Fieber mehr. Morgens kommt der Doktor vorbei. Er schlägt die Decke zurück und untersucht meinen Bauch. Er sagt, noch ein bißchen Geduld, du bist bald wieder gesund, so ein tapferes Mädchen. Er lächelt mich an. Ich habe niemals Angst, wenn er meinen Bauch betastet.
Einmal am Tag kommt meine Mutter. Immer zur gleichen Zeit. Sie sitzt neben meinem Bett; sie knetet ihr Taschentuch oder trommelt mit den Fingern auf der Bettdecke. Ich tue, als ob ich schlafen würde. Sie murmelt vor sich hin. Es klingt, als wäre sie weit weg. Sie wird vernünftig, höre ich sie sagen, Gott sei Dank wird sie wieder vernünftig. Nach einer Weile kommt Schwester Claire. Dann steht meine Mutter auf und sagt, sie müsse gehen. Schwester Claire begleitet sie hinaus.
Ich darf aufstehen. Schwester Claire kämmt mich jeden Morgen. Sie bindet mir eine rosa Schleife ins Haar, weil sie weiß, daß ich das gern habe. Sie sagt, du hast so schönes Haar, du solltest es wieder wachsen lassen.
Ich gehe in den Gang hinaus. Zuerst scheint er einen Kilometer lang zu sein.
Dann wird er immer kleiner. Hier treffe ich andere Kinder. Manche sind krank, wie ich. Andere haben seltsam geformte Gesichter oder gehen auf Krücken. Einige liegen im Rollstuhl. Ihr Kopf hängt vornüber, oder sie bringen den Mund nicht zu.
Schwester Claire sagt, daß sie immer in einem Heim leben müßten. Ich auch? frage ich. Sie lächelt. Nein, du nicht.
Einmal frage ich sie, warum ich eigentlich hier sei. Sie seufzt und sagt, du hast großen Kummer gehabt. Aber dein Schutzengel wachte. Ich sage nein, er hat mich nicht finden können. Da schweigt sie.
Ich sitze auf einer Bank im Garten. Welke Blätter schweben in der Luft. Die Schwester fragt, ist dir nicht kalt? Ich sage nein. Ich habe eine Strickjacke und warme Strumpfhosen an.
Schwester Claire sagt, in zwei Wochen ist Weihnachten. Sie erzählt mir von der Krippe, die sie in der Kapelle aufstellen. Die Krippenfiguren seien hundert Jahre alt. Ich möchte sie gern sehen. Sie sagt, dann bist du nicht mehr hier. Sie hat mit meiner Mutter abgemacht, daß ich zu meiner Tante nach Montpellier fahre. Ich bin einverstanden.
Ein paar Tage vor Weihnachten kommt meine Mutter mich holen. Schwester 256
Claire begleitet mich bis an das eiserne Tor. Sie umarmt mich und wünscht mir alles Gute. Wir weinen beide. Meine Mutter sagt nichts. Sie trägt ihren schwarzen Mantel und ihre Sonnenbrille, obwohl der Himmel grau ist. Sie hat meine Sachen in einen kleinen Koffer gepackt. Wir gehen sofort zum Bahnhof.
Ich sollte ein paar Monate in Montpellier bleiben. Ich bleibe drei Jahre dort.
Tante Marguerite ist ganz anders als meine Mutter, sanft, mit weichem braunem Haar. Ich muß nur die Augen zumachen, dann spüre ich wieder ihre Hände und die warme Brust und ihre runden, seidigen Knie. Onkel Gaspard ist groß und besonnen; kaum etwas bringt ihn aus der Ruhe. Er arbeitet bei einer Bank. In seiner Freizeit restauriert er alte Möbel und baut Geigen. Der kleine Louis kreischt oder spuckt mein T-Shirt voll, wenn ich ihn auf den Schoß nehme. Ich gehe wieder zur Schule; den Lehrern wurde gesagt, daß ich lange krank war. Ich muß vieles nachholen. Das Lernen tut mir gut. Ich brauche diese Pause, diesen eingefaßten Zwischenraum zwischen vorher und jetzt. Ich sitze da in meiner Schulbank, ich hebe oft die Hand, ich führe meine Hefte sehr sauber und ordentlich. Und nach der Schule helfe ich Tante Marguerite im Haushalt, spiele mit Louis oder gehe mit ihm spazieren. Das beruhigt und befriedigt mich.
Die Zeit vergeht.
Zurück nach Arles: wieder das alte Haus, die schweren Möbel, der verschlossene Bücherschrank, der Geruch nach Gips und Salmiakgeist. Der Garten besteht nicht mehr. Die Mauer wurde abgerissen. Überall Schutt, frische rote Erde und Berge von Steinen. Schon frühmorgens rasseln die Bagger, Preßlufthämmer dröhnen, die Betonmaschine stampft. Es riecht nach warmem Teer, nach
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