Silbermuschel
den Schlüssel mitgenommen, das tut er immer, wenn er abends ausgeht. Unten sind alle Fenster vergittert, und über die Mauer zu klettern, dazu fehlt ihr die Kraft. Sie rennt im Garten herum, immer im Kreis, sie weint und schluchzt, ihre Nase läuft, ihr Bauch ist gefüllt mit Blut und Schleim und Tränen. Sie taumelt, sie fällt zu Boden, liegt keuchend im Gras, mit zerrissenem Körper und gespaltener Seele, und hoch über der Baumkrone kreisen weiße Mondvögel.
Später schleppe ich mich die Treppe hoch in mein Zimmer. Ich will mich einschließen. Doch der Schlüssel steckt nicht mehr in der Tür. Ich suche ihn in jeder Schublade, werfe alles durcheinander, ich finde ihn nicht mehr. Er hat den Schlüssel an sich genommen. Die Welt der Nacht beginnt, die andere Welt, die Welt des Schreckens. Bald kommt der Teufel, ich weiß es, ich fühle es. Es gibt keine Sicherheit, nicht einmal in meinem Bett. Ich knie vor dem Kruzifix nieder und bete: Lieber Jesus, beschütze mich. Dann wandere ich im Zimmer umher, spreche zu allen vertrauten Dingen. Ich flehe die Treppenstufe an: Warne mich, wenn er kommt! Ich stelle einen Stuhl vor die Tür und bitte ihn: Laß niemand herein! Ich streiche mit der Handfläche über die Kommode und flüstere: Hilf mir!
Ich sage es auch zu dem Spiegelschrank, zu dem Bett. Schließlich gehe ich ans Fenster, blicke in den finsteren Garten. Hinter dem Kastanienbaum flackert grell 248
und eisig der Mond. Ich klatsche zweimal in die Hände und flüstere den magischen Namen:
»Kurino-Ki! Bleib da. Ich bitte dich!«
Ich habe Angst, daß er mich verläßt; daß er mit seinen starken Wurzeln die Erde hebt und hinauf in den Himmel steigt.
Meine Zähne sind geputzt, meine Füße gewaschen. Aber in dieser warmen Augustnacht liege ich angekleidet im Bett. Über meiner Unterwäsche trage ich eine Strickjacke, bis zum Hals zugeknöpft, meine jeans und Strümpfe. Und in meinen Schlüpfer habe ich eine Binde gesteckt, obwohl ich seit ein paar Stunden nicht mehr blute.
Nach kurzer Zeit bin ich naßgeschwitzt. Ich zerwühle das Laken, wälze mich hin und her. Ich klappere mit den Zähnen. Trotz der Sachen, die ich anhabe. Trotz der Hitze. Ich will schlafen, wenn ich schlafe, verschwindet die Angst. Sie ist vielleicht noch irgendwo, aber sie quält mich nicht mehr. Und in zwei Tagen ist meine Mutter wieder da.
Ich rufe laut:
»Mama!«
Und da fällt mir ein, daß sie mir nicht helfen wird. Niemals. Ich habe ihr ja den Bauch zerrissen, sie ist mir immer noch böse deswegen. Und sie hat es gern, was mein Vater mit ihr macht. Vielleicht wird sie eifersüchtig, wenn er dasselbe auch mit mir macht.
Der Mond steigt höher. Ein leichter Wind kommt auf. Die Blätter bewegen sich zärtlich wie streichelnde Hände. Sie halten die Kraft des Lebens umfaßt, sie beschützen und beruhigen mich. Ich schlafe ein.
Auf einmal bin ich wieder hellwach. Schlage die Augen auf. Etwas hat mich aus dem Schlaf gerissen. Die Stufe vor meinem Zimmer hat geknarrt. Sie warnt mich. Der Teufel kommt! In panischer Angst verkrieche ich mich tiefer unter die Decke, drücke mich an die Wand. Im Mondlicht sehe ich, wie sich der Stuhl langsam vorwärtsbewegt. Die Klinke senkt sich; die Tür geht auf. Die Kommode knirscht; der Spiegelschrank gibt ein leises Geräusch von sich, die Angeln quietschen kaum hörbar. Die Gestalt eines Mannes, hoch aufragend und dunkel, schiebt sich durch den Türspalt. Sein Schatten fällt in das Zimmer. Jetzt muß ich ihn bekämpfen, doch ich fühle nur Schwäche, wo jetzt so notwendig Stärke sein sollte. Ich kann nicht entkommen, ja, nicht einmal den Mund aufmachen und schreien, sonst steckt er mir sein gräßliches Ding hinein.
Der Teufel trägt seinen Schlafanzug, darüber den gestreiften Bademantel. Seine hellen Augen leuchten im Mondschein. Ich hänge wie an einem Seil, das mich in dunkle Tiefen zieht. Innerlich schreie ich.
Ich bin so allein, ich bin so allein!
Wer hilft mir? Keiner. Nur du, vielleicht. Aber du hörst mich nicht, du kommst nicht. Ein Mülleimer scheppert. Irgendwo zerbricht Glas. Eine Männerstimme ruft 249
wütend ein paar Worte. Es ist irgendwo draußen, ganz in der Nähe. Dann wieder Stille. Die Finsternis wächst von allen Seiten hoch. Nur der Baum schaut auf mich herab und schützt mich. Wenn die dünnen Äste stark genug sind, schwinge ich mich zum Mond empor.
»Schläfst du?« fragt der Teufel mit freundlicher Stimme.
Er hat diese Frage schon früher gestellt. In einer anderen
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