Silbermuschel
denn die Essig- und Ölflaschen seien. Ich stehe auf und hole sie. Und der Korkenzieher? Ich durchwühle vergeblich sämtliche Schubladen. Mein Vater sagt, er liegt auf der Anrichte, hast du denn keine Augen im Kopf? Er öffnet eine Weinflasche. Er sagt, ich solle die Ellbogen nicht auf den Tisch stützen. Mein Kopf ist ganz heiß. Ich glaube, ich habe Fieber.
Nach dem Essen räume ich die Küche auf, lege mich eine Weile hin. Ich schlafe ein und träume von meiner Großmutter; sie geht in einem Zimmer auf und ab. Ihr rotes Haar flutet über ihr weißes Nachthemd. Das Zimmer besteht aus weißen Wänden. Darin ist nur ein weißbezogenes, unberührtes Bett. Und ein Stuhl.
Vor dem Fenster sind Gitter. Dahinter scheint die Sonne. Meine Großmutter packt die Gitterstäbe. Sie schreit und schreit, mit weit aufgerissenem Mund, ihren Körper hin und her werfend. Ich erwache schlagartig. Mein Herz hämmert. Bin ich es, die so geschrien hat? Ich muß ganz dringend. Als ich aufs WC gehe, merke ich, daß meine Blutung nachläßt. Ich wechsle die Binde, ziehe die Spülung, trinke Wasser aus der hohlen Hand. Im Haus ist alles still. Mein Vater ist nicht da.
Er kommt gegen Abend wieder, lächelt mich an und sagt, ich habe dir ein Geschenk mitgebracht. Er reicht mir ein kleines Päckchen. Mach es doch auf! Ich ziehe die rosa Schleife auf, wickle das Glanzpapier auseinander. Zum Vorschein kommt ein winziges Parfümfläschchen. L’Air du Temps, von Nina Ricci. Er sagt, das macht dir doch Freude, nicht wahr? Ich sage nichts. Er sagt, öffne den Stöpsel.
Nun? Wie gefällt dir dieser Duft? Ich sage, gut. Er ist nicht zufrieden. Was sagt denn ein guterzogenes Mädchen, wenn der Papa ihr ein schönes Geschenk mitbringt? Ich flüstere danke. Er will mir über das Haar streichen. Ich weiche zurück. Er verschwindet in seinem Arbeitszimmer. Nach einer Weile klappert die Schreibmaschine. Ich gehe nach oben in die Toilette. Ich leere das Fläschchen ins WC, ziehe die Spülung, mache das Fenster weit auf. Das Fläschchen werfe ich in den Mülleimer. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Ich habe L’Air du Temps doch so gern. Ich gehe in den Garten. Ich setze mich unter den Kastanienbaum, schmiege meinen Rücken ganz eng an den Stamm. Der grüne Schatten beschützt mich; ich möchte mit dem Baum verschmelzen, in ihm verschwinden. Ich weiß, daß ich es kann. Ich brauche es nur zu wollen, und dann passieren seltsame Dinge.
Ich denke an meine Großmutter. Ob sie wohl auch mit den Bäumen sprach?!
Ich habe aufgehört zu bluten.
Es wird Abend. Der Himmel ist glutrot. Die Vögel schweigen. Nicht ein Zweig rührt sich, und auch kein einziges Blatt. Mein Vater ißt auswärts zu Abend. Es wird spät werden, hat er gesagt, geh schlafen. Ich knabbere ein Stück Brot, trinke 247
ein Glas Milch. Dann setze ich mich im Garten auf einen Stuhl, wie meine Mutter, und wippe mit starren Augen hin und her. Es ist mir unerträglich, zu sehen, wie die Dunkelheit von Augenblick zu Augenblick wächst, sich verdichtet wie finsterer Rauch. So sitze ich da, und später erscheint ein weißes Leuchten, eine flackernde Aura breitet sich aus, und der Vollmond steigt über die Mauer empor, zieht langsam eine silberne Bahn. Und auf einmal spüre ich es wieder ganz deutlich: ein Flirren, ein Vibrieren, ein Hauch, der meine Seele berührt. Es geht im weiten Umkreis; kommt näher, verschwindet. Ich weiß, daß es mich sucht, daß ich es finden muß. Wenn ich es finde, bin ich gerettet. Dann brauche ich keinen Vater, keine Mutter mehr, niemand wird mich beschimpfen, beschmutzen, verletzen. Ich fühle, es hängt mit dem Mond zusammen, mit dem Baum, und auch mit einem Namen, den ich schon fast vergessen habe. Manuel? Wer ist Manuel? Ich weiß es nicht mehr. Ein anderer Name kommt mir in den Sinn. Ein Name von früher, als ich noch ein kleines Mädchen war. Mon Amie la Rose. Sie lebt nicht mehr. Sie ist längst verwelkt, vertrocknet, gestorben. Ich bin jetzt etwas anderes. Was bin ich nur?
Ich träume, daß ich eine Füchsin bin.
Die Füchsin will hinaus aus dem Garten. Sie will durch die Straßen rennen, im Mondlicht fliegen, durch die Flammen springen. Sie sucht ein Licht, das ihrem Schlaf die Treue hält, eine Hand, die sie schützt, ein Lächeln, das sie beruhigt, einen Herzschlag in ihrem Herzen. Sie flieht vor den schrecklichen Bildern, die hinter ihren Augen drängen, sie wirft ihre Angst in den Atem der Nacht. Sie kann nicht weg, sie kann nicht aus der Tür. Er hat
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