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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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blickte seitlich aufwärts.
    Eine Papierlampe an der Decke schaukelte im Luftzug, und ihr Licht huschte im Takt über braungeschliffenes Holz. Selbst der Boden unter mir schien zu schwanken.
    »Ein Gewitter«, sagte die Stimme, »es zieht weiter.«
    Das Plätschern wurde zum undeutlichen Rieseln. Was blieb, war diese Stimme, so ruhig, so vertraut. Langsam, sehr langsam tauchte ich aus tiefem Nebel empor.
    Mein Geist schien nach unten zu schweben, um sich mit meinem Körper wieder zu vereinen. Sie trafen sich, wie eine Spiegelung auf der Wasserfläche wieder zur Ruhe kommt. Mühsam hob ich die tränenverklebten Wimpern. Über mir schwebte ein Gesicht, freundlich und heiter, wie es nur in Träumen erscheint. Stets hatte ich seine Anwesenheit gespürt, auch wenn ich es nicht sehen konnte. Es hatte mich durch Finsternis und Schrecken geleitet, wie ein Stern in der Nacht. Meine Furcht verließ mich; ich fühlte mich unbeschwert und glücklich. Herunterhängende Haare streichelten meine Wangen; die Nebel wichen – und was blieb, war dieses Gesicht.
    Ein Antlitz, das ich niemals vergessen würde, selbst wenn ich tausend Jahre in der Finsternis zubringen müßte. Mein Herz begann heftig zu klopfen.
    »Ken!«
    »Ich bin da«, erwiderte seine weiche, dunkle Stimme. Ich lag an seiner Brust 260
    und fühlte seine Atemzüge. Der ganze Raum war erfüllt mit dem Geruch von Regen, feuchter Erde und Gräsern.
    »Schläfst du denn nicht?«
    Ein trauriges Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.
    »Wie kann ich schlafen, wenn du dauernd redest!«
    »Habe ich schlimme Sachen erzählt?«
    »Du weißt es nicht, aber du hast mich zum Weinen gebracht. Ich zeige anderen meine Tränen nie. Aber ich möchte dir eine Stelle aus dem Buch eines japanischen Mönches zitieren: ›Ich war gestorben, und mein Körper wurde eingeäschert. Meine Seele bemerkte, daß der Körper Mühe hatte, zu verbrennen. Sie brach sich deshalb einen Ast von einem Baum und wendete den Leichnam um, damit er ganz vom Feuer verzehrt wurde. Als das geschehen war, fühlte ich, daß meine Seele befreit war.‹ Das ist es, was ich empfunden habe.«
    »Oh, Ken! Wenn ich dir nur sagen könnte…«
    Er küßte mich sanft.
    »Liebste, du hast mir bereits alles gesagt. Sei ruhig, du hast es überstanden.
    Dein Körper hat seine Geschichte zurückgewonnen, den Geist wieder in sich hineingenommen. Denn der Körper, der ein Gefäß der Seele ist, muß diese in sich bewahren. Die äußeren Wunden heilen schnell und vernarben. Die inneren Wunden aber, die seelischen, bluten noch lange. Sie bilden das Gewebe, aus dem die Erfahrung wächst. Leid und Schmerz kannst du umwandeln in Freude oder Sehnsucht, in Tanz, Poesie oder Musik. So mußt du denken, und dann wird alles gut. Und was das andere betrifft… mir scheint, du trägst eine bedeutende Gabe in dir. Vielleicht beneide ich dich sogar darum. Denn das, was dir in die Wiege gelegt wurde, suchen andere durch den Irrgarten künstlicher Paradiese, durch das Dornengestrüpp von Verblendung, Fehlbitten und nutzlosem Verzicht. Aber darüber reden wir später. Jetzt bist du müde.«
    Ich klammerte mich an seine Schultern.
    »Sprich weiter! Hör nicht auf!«
    Er schmiegte sein Gesicht an das meine. Mit den Fingerspitzen strich er mir über die Schläfen.
    »Noch etwas mußt du wissen. Dieses Buch… das du dir als Kind so sehr gewünscht hattest…«
    Er stockte, blickte mit eigenartigem Ausdruck ins Leere. Ich sah, wie sein Gesicht sich verkrampfte, heimgesucht von einem Schmerz, den er plötzlich nicht mehr in der Gewalt hatte. Ich richtete mich hoch. Meine Kopfhaut prickelte. Ich war auf einmal wie besessen.
    »Das Bilderbuch! Kennst du es? Hast du davon gehört? Ich habe es vergeblich gesucht, jahrelang, in allen Buchhandlungen. Man sagte mir, es sei nicht mehr erhältlich…«
    Ein Seufzer dehnte seine Brust. Er ließ sich auf den Futon zurückfallen und 261
    antwortete sehr leise mit geschlossenen Augen.
    »Ja, ich kenne dieses Buch. Meine Schwester Isami hat es geschrieben und illustriert. Vor zwanzig Jahren.«
    Mein Herz stockte, dann aber schlug es so heftig, daß es mich fast erstickte.
    »Deine Schwester? Wo ist sie?«
    »Tot«, sagte er dumpf. »Aber sie lebt in mir.«
    Ken lag völlig ruhig und hielt die Augen geschlossen. Draußen prasselte es durch die Dachrinne. Der Wind hörte sich jetzt anders an: Er sang heller und klarer, beinahe wie eine Schelle oder ein Glockenspiel. Mein Herz stürmte in meiner Brust. Jetzt endlich

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