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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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aufgerissenen Gasleitungen. Von dem Kastanienbaum ist nur noch ein Stumpf übrig.
    Ich betrachte den Stumpf; welche Geheimnisse er birgt, kann ich nicht sagen, aber ich spüre sie. Es ist besser, ich denke nicht daran, sonst greift der Teufel nach mir, findet mich durch die Wärme meines Körpers, durch das Pochen des Blutes in meinen Adern. Ich sehe förmlich, wie mein Geist über die Vergangenheit ein dunkles Tuch spannt. Die versteckten Dinge dürfen weder gesehen noch berührt werden. Weder von mir noch von irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt.
    Niemals.
    Zurück nach Aries also, gepanzert mit Gleichmut. Ich gehe zur höheren Schule.
    Man sagt, ich sei begabt. Ich lese sehr viel. Hauptsächlich über Japan. Ich weiß nicht warum, es interessiert mich einfach. Die Bücher hole ich mir in der Bibliothek. Ich spare mein Taschengeld und kaufe mir ein französischjapanisches Wörterbuch. Nach den Schularbeiten bringe ich mir Japanisch bei, lerne japanische Schriftzeichen. Es ist alles ganz einfach, fast wie ein Spiel. Die Buchhandlung in der Altstadt hat den Besitzer gewechselt. Alles wurde neu gemacht, die Schaufenster vergrößert. Jetzt führen zwei Buchhändler das Sortiment. Eines Tages frage ich nach japanischen Kinderbüchern. Der Buchhändler zeigt mir welche; das, 257
    was ich suche, ist nicht dabei. Ich sage, den Titel habe ich vergessen, aber es ist die Geschichte von einem Kastanienbaum und einem Fuchs. Der Buchhändler denkt nach. Hatte das Buch nicht einen Preis in Bologna gewonnen? Aber das ist schon einige Jahre her; jetzt ist es längst vergriffen.
    Als Gastprofessor hält mein Vater Vorträge an Hochschulen und Instituten, schreibt Artikel für verschiedene Zeitschriften. Er zeigt sein vornehmes Gesicht hinter Zigarettenqualm, ein Gesicht, auf dem nichts sichtbar ist. Stets mache ich einen Bogen um ihn. Nur so vermag ich ihn zu ertragen. Seine Augen starren mich an, ohne ein Wimpernzucken. Manchmal schließt er sie kurz. Schlägt sie wieder auf. Sie funkeln wie blaues Glas. Und dahinter ist… was eigentlich? Ein Wirbel, eine Unendlichkeit. Das absolute Böse und gleichsam eine entsetzliche Angst.
    Diesem Blick weiche ich lieber aus. Bei Tisch liest er die Zeitung, das ist gut. Ich kann in Ruhe essen, ohne daß es mir hochkommt. Auf seinem rechten Handrücken sind drei kleine weiße Schwellungen zu sehen; Narben, die sich zurückbilden. Er muß sich irgendwo verletzt haben.!
    Ich helfe meiner Mutter im Haushalt, wie es sich gehört. Sie sagt nie danke.
    Ihre Verdrossenheit ist eine Macht, ihre Stille so furchtbar wie früher ihre Wut. Sie haßt mich, tief entschlossen und in vollkommener Ruhe. Vorschriften macht sie mir keine mehr. Ich kann Jeans und T-Shirts anziehen, das Haar wachsen lassen, ohne Büstenhalter gehen. Meine Mutter kümmert sich nicht darum. Eine Hure trägt, was sie will. Äußerlich bin ich wie die anderen Mädchen. Rotes Haar ist modern geworden. Man fragt mich, ob es echt oder gefärbt sei. Nur von Zeit zu Zeit passiert etwas Merkwürdiges: Mitten im Unterricht oder auf dem Schulhof schlafe ich plötzlich ein. Nach ein paar Minuten oder Sekunden schrecke ich auf, bin wieder hellwach. Meine Mitschüler lachen. Mir ist das sehr peinlich, ich kann es nie voraussehen und komme auch nicht dagegen an. Ein Lehrer meint, ich solle doch mal zum Arzt gehen.
    Ich antworte ihm, was ich immer antworte, wenn ich nicht die Absicht habe, irgend etwas zu unternehmen:
    »Vielleicht haben Sie recht. Ich werde es mir überlegen.«
    Auf der Straße beginnt man, mich anzusehen. Die Leute sagen, wie groß und hübsch du geworden bist. Ein bißchen zu dünn vielleicht und etwas blaß. Du warst lange krank, nicht wahr? Deine Eltern haben sich Sorgen gemacht. Den Jungen gehe ich aus dem Weg. Ich will nicht, daß sie mich anfassen. Tanzen? Kino? Mit wem? Küssen? Nie im Leben, mir wird übel davon.
    Ich weiß nicht, warum, es ist einfach so.
    Ich bestehe mein Abitur mit »sehr gut«. Ich will in Montpellier japanologie studieren. Tante Marguerite sagt, du kannst bei uns wohnen. Louis vermißt dich sehr, du weißt doch, wie er dich mag. Mein Vater sagt, für ein Mädchen reiche doch die höhere Schule, aber wenn ich studieren wolle, habe er nichts dagegen. Wo ich doch wirklich begabt sei. Mein Vater ist offen und tolerant und voller 258
    Nachsicht. Er erzählt seinen Freunden, meine Tochter will Japanologie studieren.
    Ich weiß nicht, woher sie diese Idee nimmt. Na ja, wenn es sie

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