Silbermuschel
interessiert…
Doch es kommt alles anders. In den Ferien lerne ich Bruno kennen. Zuerst weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Der Zufall gibt mir Gelegenheit, unter mein bisheriges Leben einen Schlußstrich zu ziehen. Soll ich nachgeben? Ich fühle mich so einsam, so verletzbar. Aus lauter Feigheit werfe ich mich Bruno an den Hals, überlasse ihm meinen Körper, weil es der Preis ist, den ich zu zahlen habe. Ich schreie in meinem Kopf, in meiner eigenen Stille. Er hört es nicht. Er ist zufrieden.
Er hat ein schönes Mädchen gefunden, aus guter Familie. Natürlich hätte er sie lieber als Jungfrau gehabt, aber heutzutage, man weiß ja, wie das ist…
Julie Saint-Privaz, sind Sie denn von Adel? hat er mich damals gefragt.
»Ich fuhr also mit Bruno in die Schweiz. Wir heirateten. Langsam, Monat um Monat, kroch das Leben in mich zurück, wie der Saft in einen verdorrten Baum.
Ich spürte keinen Schmerz in meinem Körper und sehr wenig in meinem Geist.
Unsere Ehe blieb kinderlos. Der Arzt sagte, nichts deute darauf hin, daß ich keine Kinder haben könnte. Ich wußte, es lag an mir. Der Körper setzt Zeichen für das, was aus der Tiefe kommt. Ich konnte Bruno nicht ertragen. Ich bekam Krämpfe, und es tat so weh. Ich hätte ihn niemals heiraten sollen, er war mir schon am Anfang zuwider. Ich redete mir ein, das sei normal. Daß nur die Männer etwas dabei empfänden. Es wurde immer schlimmer. Jedesmal, wenn Bruno auf mir lag, entdeckte ich unerwartete Kräfte, wehrte mich, versuchte seinem Gewicht zu entkommen. Das erregte ihn. Du willst nicht, aber das ist gut, sagte er, und keuchte neben meinem Hals. Zuletzt schloß ich die Augen, dachte mich weg, ließ mich einfach untergehen. Kam er zum Höhepunkt, schlief ich bereits…
Die Wandlung ereignete sich ganz allmählich. Das habe ich jedoch erst später erkannt, als ich begann, das dunkle Tuch in mir zu lüften. Wenn ich es tat, wurde mir elend vor Angst, wenn ich es aber nicht tat, war mir, als ob ich sterben müsse.
Als kleines Mädchen war ich gezwungen worden, zwischen guten und bösen Märchen zu wählen. Meine Zähigkeit zu leben war ein Ereignis gewesen, in einer Dämmerung zwischen Leben und Tod. Die Tränen und der Rotz waren getrocknet, aber sie klebten noch auf meinem Gesicht. Welche Gedanken hat ein Kind, das dem Teufel begegnet und am Leben bleibt? Ich war hinter die Grenze des Schmerzes getaucht; ein wesentlicher Teil von mir war noch in alten Ängsten gefangen. Ich litt Qualen unter dieser Selbstverleugnung, suchte mein Spiegelbild auf dem Grund trüben Wassers. Endlich fand ich die Kraft, mich von Bruno zu trennen. Ich trat ins Freie, hinaus ins Leben, mit offenen Augen. Und als der Teufel ein zweites Mal vor mir stand, da war ich bereit, zu kämpfen. Ich wollte aufwachen, glücklich sein, lachen, aus vollem Herzen wieder lieben können. Und dazu war es erforderlich, daß ich das kleine Mädchen ins Leben rief, das kleine Mädchen mit der rosa Schleife im Haar, das der Teufel in einer Vollmondnacht ermordet hatte…
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Und so ließ ich es zu, daß der Teufel mich küßte, mich beschimpfte, mir die Kleider vom Leib riß. In einem Zimmer voller Spiegel formte ich den Baum in meinem Kopf: zuerst Wurzeln, dann Äste, Zweige und Blätter. Ich dachte an die Füchsin und rief den magischen Namen. Da bewegte sich das Bett, und alle Spiegel zerplatzten. Eine Explosion, ein Wirbel, Splitter überall. Auf der Kassette sieht man, wie es sich ereignet, wie die Scherben fliegen. Ich habe den Teufel besiegt, das kleine Mädchen wiedererweckt. Aber das konnte ich nur, weil ich ein Ungeheuer bin, ein Scheusal, eine Hexe. Keiner weiß es, nur du… Warum habe ich dir das alles erzählt? Geh fort von mir! Laß mich allein! Sieh nur, wie schmutzig ich bin…«
»Nein, du bist nicht schmutzig.«
»Mir kommt das Essen wieder hoch. Das Bett ist unsauber, meine Mutter putzt mit Zeitungspapier den Boden auf. Sie sagt…«
Eine Hand legte sich auf meinen Mund.
»Still! Denk nicht mehr daran! Es ist vorbei.«
»Nein. Es hört nie auf!«
»Sieh mich an! Ich liebe dich.«
»Ich kann nicht. Ich will ihn nicht sehen.«
»Er ist weg. Er kommt nicht wieder. Mach die Augen auf!«
Ich lag da, im Halbschlaf oder wachend, und hörte die Stimme wie im Traum.
Von irgendwoher kam ein gleichmäßiges Rauschen, ein Klopfen und Prasseln, als ob Tropfen gegen ein Fenster schlugen. Eine Dachrinne gluckste. Meine Lider zuckten. Ich sah einen Lichtfleck, drehte den Kopf herum,
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