Silbermuschel
beruhigt.«
Als wir uns verabschiedeten, wirkte Tetsuo sichtlich getröstet, und auch die Arbeiter nickten uns vergnügt zu. Die leicht bedrückte Stimmung im Zimmer war wie durch Zauberhand verflogen.
Draußen im Gang fragte ich ihn:
»Wie machst du das nur? Tetsuo sah völlig niedergeschlagen aus, und jetzt lacht er, bloß weil du mit ihm gesprochen hast.«
Er lächelte.
»Ich habe ihn spüren lassen, daß er zu uns gehört. Dabei geht es mir weniger um Gruppensolidarität als um eine Art Familiengefühl. Ich nehme keinen Musiker unter Vertrag. Verträge schließe ich nur im Ausland ab. Für uns Japaner zählt das gegebene Wort. Ich trage die Verantwortung für meine Gruppe. Zu dem Verantwortungsgefühl gehört die Fähigkeit, sich mit den anderen zu identifizieren.
Leidet Tetsuo, leide ich notgedrungen mit ihm. Stärke und Hilflosigkeit sind vorübergehende Zustände, die sich schnell ändern können. Heute du – morgen ich.
So desit«, setzte er ruhig hinzu.
Wir traten ins Freie, setzten unsere Helme auf und fuhren los. Die Sonne war 293
hinter den Wolkenkratzern verschwunden. Nur die hohen Fensterreihen funkelten glühend, als ob die obersten Stockwerke in Flammen stünden. Darüber spannte sich ein roter, glasklarer Himmel. Kleine gelbe Wölkchen wehten vorüber. Die Maschine summte gleichmäßig; ich spürte, wie die Luft kühler wurde. Ich trug Kens Lederjacke, während er selbst nur einen Pullover anhatte. Ich sah seinen schmalen Nacken vor mir, mit dieser zimtfarbenen, unglaublich zarten Haut.
Manchmal fuhr ich mit der Hand darüber, in spielerischer Zärtlichkeit. Dann drehte er leicht den Kopf. Ich fühlte, wie er lächelte.
Die Ausfallstraße schwang sich wie ein Bogen über die tiefer liegenden Straßenzüge, von stockenden Fahrzeugkolonnen gefüllt. Ich blickte weit über das Häusermeer von Tokio, über die erleuchteten Fenster, die zuckenden Neonlichter.
Als wir die Autobahn erreichten und Ken die Gebühren bezahlte, war es bereits stockdunkel. Wir tauchten in die Finsternis ein wie in einen Traum. An diesem Abend fuhren wir nicht weit. Bereits nach einer Stunde erreichten wir eine kleinere Stadt und beschlossen, dort zu übernachten. Das Hotel, im Zentrum gelegen, war vorwiegend für Kongresse eingerichtet. Das Zimmer war einfach, aber bequem, mit einem kleinen Badezimmer. Zu einem Stadtbummel hatten wir keine Lust mehr. In einer unterirdischen Shopping-Galerie, ganz in der Nähe, befanden sich eine Anzahl Restaurants, westliche und japanische; wir gingen in ein japanisches.
Dort zogen wir unsere Schuhe aus, setzten uns auf blauweiße Sitzkissen an den niedrigen Tisch. Das Essen wurde auf großen Lacktabletts serviert. Wieder gab es für mich das zauberhafte Entdecken verschiedener Köstlichkeiten: Garnelen, in lockerem Teig gebraten, Muschen, gedämpfte Aalstücke mit Kandiszucker, Tintenfischstreifen, fadendünn geschnittener Rettich, süßsaures Weißkraut. Reis und eine würzig duftende Miso-Suppe gehörten dazu. Ken hob für mich die Deckel von den kleinen Schalen und Gefäßen aus Lack und Steingut, zeigte mir, wie das Essen durch verschiedene Zitronensorten, Kressearten, Ingwer und Bergpfeffer bereichert wurde. Er nannte mir die Namen der verschiedenen Zutaten, erklärte mir, wie man sie verwendete. Mühelos zog er mich in seine Welt, die mir niemals richtig fremd vorkam, nicht einmal besonders exotisch.
»Warum ich Japan liebe?« sagte ich zu Ken. »Ich habe nicht darüber nachgedacht. Eigentlich ist es genau, wie ich es mir vorgestellt, wie ich es im Traum gesehen habe, mehrere Male. Und doch ist alles ganz anders. Es ist eine Milde, eine Zärtlichkeit, die aus dem Ganzen kommt. Ich spüre sie und fühle mich sehr beruhigt. Vielleicht ist es nur ein besonderes Lebensgefühl…«
Er betrachtete mich nachdenklich.
»Du spürst vieles, was andere nicht spüren. Viele Ausländer, die zum ersten Mal hier sind, fühlen sich übers Ohr gehauen, weil wir ihren exotischen Wunschträumen nicht entsprechen.«
»Wie reagierst du auf solche Vorurteile?«
»Ich?« Er grinste. »Nun, du hast es ja erlebt: indem ich mich wie ein Flegel 294
benehme.«
Die Suppe war heiß. Ich nippte behutsam daran.
»Nein, das tust du nicht. Du machst es anders, viel subtiler. Während die anderen noch überlegen, ob sie eigentlich beleidigt sein sollen oder nicht, bist du ihnen mit deinen Gedanken schon wieder einen Sprung voraus.«
Die Fältchen in seinen Augenwinkeln vertieften sich.
»Das ist
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