Silbermuschel
Rührung.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte ich leise. »Wie kann man unglücklich sein, wenn man liebt?«
Sie lächelte flüchtig, strich mit dem Finger über meine Wange.
»Offenbar scheint er dir ganz gut zu bekommen. Also… tu, was du für richtig hältst! «
Wir umarmten uns; Franca atmete schnell, ihre Haut fühlte sich feucht an. Ken stand etwas abseits und sah zu. Nicht mit dem spöttischabwehrenden Blick des Außenstehenden, sondern offen und ohne Ironie. Franca fing diesen Blick auf und seufzte.
»Passen Sie ein bißchen auf Julie auf. Sie hat eine schwere Zeit hinter sich. Sie braucht jemand, der nett zu ihr ist.«
»Haben Sie Geduld, Franca«, entgegnete er ruhig. »Und lassen Sie sich nicht gefangennehmen von dem, was Sie hören oder sehen. Achten Sie auf die inneren Schwingungen.«
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Sie erwecken mit Vorliebe den Eindruck, daß Sie die Dinge sehr locker nehmen. Und plötzlich sagen Sie etwas, das alles in ganz anderem Licht erscheinen läßt.«
»Das ist die japanische Undurchschaubarkeit.«
»Sie sind groß darin, Klischees zu enttarnen. Nein, das ist es nicht. Sie denken in eine andere Richtung. Für mich sind diese zehn Tage jetzt um. Und eigentlich habe ich nicht die Fragen gestellt, die ich stellen wollte. Daß ich auf einmal so empfinde, liegt an Ihnen. Und ich muß Ihnen schon sagen, Sie sind wirklich der ungewöhnlichste Mensch, der mir je begegnet ist.«
Er lächelte sein warmes, bezauberndes Lächeln.
»Toll! Aber wer kann die Welt des Ungewöhnlichen fassen?«
»Haben Sie immer das letzte Wort?«
»Meistens.«
Franca versuchte zu lächeln und setzte ihre Sonnenbrille wieder auf. Sie kletterte in den Bus, drehte sich um und gab dem Fahrer das Ticket. Dann setzte sie sich auf einen Fensterplatz. Charles stieg hinter ihr ein. In letzter Sekunde zog er eine Visitenkarte aus der Tasche und hielt sie mir hin.
»Für den Fall, daß du Hilfe brauchst«, sagte er. Ich nahm die Karte und fühlte mich dem Lachen nahe. Ken verzog keine Miene.
»Domo arigato. Sie machen es so gut, wie Sie können«, sagte er, und es gelang 288
ihm, einen Abgrund von Geringschätzigkeit in seinen freundlichen Worten mitklingen zu lassen.
Die Türen schlossen sich. Ich sah Francas Gesicht mit der großen weißen Sonnenbrille. Sie drückte die Hand flach an das Fenster. Ich hob den Arm und berührte mit meiner Hand die Scheibe, wo ihre Hand war. Ihre Lippen teilten sich zu einem spröden Lächeln. Der Fahrer legte den Gang ein, schwerfällig setzte sich der Bus in Bewegung. Franca zog ihr Gesicht vom Fenster zurück, wischte ihre Atemspur mit dem Ärmel weg. Charles verrenkte sich den Hals, um mir mit der Zeitung zuzuwinken. Ken übersah er. Der Bus fuhr in einer Kurve über den Hotelparkplatz und die Straße hinunter. Dann war er verschwunden, und ich holte tief Atem. Plötzlich war alles verändert. Franca war weg. Sie fuhr allein in die Schweiz zurück. Warum hinterließ sie mir nicht den Kummer eines Verlusts? Ich sah mich selbst neben Ken wie in einem fernen, sehr fernen Spiegel, bemerkte, wie er mich zunächst anblickte, als erwarte er, daß ich zu sprechen beginne, aber ich sagte nichts. Da drückte er mich so fest an sich, daß es schmerzte. Ich preßte meine Wange an die seine, mein ganzer Körper vibrierte von den Schlägen seines Herzens. Er nahm meine Hand, er bettete seine Wange hinein.
»Als ich vorhin auf dich wartete«, sagte er, »kam mir jede Sekunde wie eine Ewigkeit vor.«
»Mir auch. Ich konnte nicht mehr stehen, ich mußte mich setzten. Franca hat nur ihren Kopf geschüttelt.«
Wir blinzelten, die Sonne brachte uns außer Fassung. Er zog mich in den Schatten, lehnte sich an eine Säule, umfaßte mein Gesicht mit beiden Händen. Ich hörte seine Stimme, sie klang leise im Rauschen des Windes.
»Ore wa omae ga sukida.«
Mit zitternden Fingern liebkoste ich sein Gesicht, tastete über seine Stirn, die Augen, die Wangen.
»Ich gehöre dir«, sagte er leise. »Ich gehöre dir ganz. Mach mit mir, was du willst, bitte schone mich nicht.«
Er keuchte. Ich war bestürzt. »Beiß mich«, flüsterte er. »Ich will, daß du mich beißt.«
»Ich tu’ dir weh!«
»Nein! Es tut gut.«
Wir lösten uns voneinander, atemlos. Ich sah die kleine Wunde auf seinem Hals, ein winziges blaues Merkmal, wie eine Blüte, die ich behutsam küßte. Er hielt die Lider geschlossen.
»Hast du gewußt«, fragte ich, »daß Liebe so sein kann?«
Er öffnete die
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