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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Lebewesen, Pflanzen, Mineralien und Gegenstände. Nun kommt es vor, daß besonders sensible Menschen das Ki deutlicher spüren als andere. Und es gelingt ihnen ebenfalls, mit diesem Ki Verbindung aufzunehmen; nach einer Weile geschieht es ganz mühelos. Die Wissenschaft kennt einen Namen dafür: Psychokinese. Komm, versuch mal die Sache mit dem Glas. Mal sehen, ob du es besser fertigbringst.«
    Ich setzte mich vor den Tisch, wie er es getan hatte, starrte eine Weile auf das Glas und hob dann hilflos die Augen zu ihm empor.
    »Kannst du mir den Spruch beibringen?«
    Er sprach mir die Worte vor:

    »Kokkurisan, kokkurisan
    Watashino negai wo
    kiite kudasai!«
    »Was heißt das übersetzt?« fragte ich.
    »Ach, es ist nur ein Kinderreim. Die Worte sind ganz einfach: ›Kleiner Schläfer, kleiner Schläfer, ich bitte dich, erfülle meinen Wunsch‹ Aber der Spruch ist sehr alt und bezieht sich auf den heiligen Schlaf der Schamanen, also auf die Trance.«
    Ich konzentrierte mich und sprach die Worte vor mich hin. Ich spürte ein Kräuseln auf meiner Haut, wie einen ganz schwachen Windhauch. Im selben Augenblick flog das Glas über den Tisch. Ken fing es in letzter Sekunde auf. Er lachte schallend, während mir die Röte ins Gesicht stieg.
    »Siehst du jetzt, was ich meine? Du hast die gleiche Fähigkeit wie ich, nur unvergleichlich stärker.«
    Ich starrte ihn an, immer noch verblüfft. Ich wunderte mich, wie gefaßt ich plötzlich war.
    »Wie bringe ich das nur fertig?«
    »Chérie, du bist ein Naturtalent«, erwiderte er lachend. »Eine Menge Leute verbringen Jahre in feierlicher Meditation und holen sich dabei nur Hämorrhoiden, während Kinder völlig ahnungslos ins Nirwana stolpern.«
    Unwillkürlich lachte ich mit ihm, durch seinen Humor beschwichtigt und von aller Unruhe befreit. Mein Herz schlug wieder schneller, doch jetzt vor Glück.
    »Erinnerst du dich an deine Spiele mit dem Baum, mit den Kirchenfenstern, mit den Vögeln?« Er sah mich über das Glas, aus dem er trank, nachdenklich lächelnd an. Ich nickte stumm, die Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Ken erzählte weiter.
    300
    »Unser Hang für das Abstrakte, das Kopfrechnen, unsere Vorliebe für den stilisierten Symbolismus in den Künsten, von der Teezeremonie bis zur Bühnendichtung, all das begünstigt das globale Wahrnehmen. Dazu kommt unsere Schreibweise, sie kann senkrecht oder waagerecht sein und fördert die sofortige Sichtbarmachung der Gedanken. Schon mit der Angabe der Zahl der Tatami, der Reisstrohmatten in unseren Häusern vermögen wir uns in Sekundenschnelle die bewohnbare Fläche vorzustellen. Das geht so weit, daß wir uns über den Standort der Möbel klar sind und uns über den Zeitablauf des Familienlebens ein Bild machen können! Auch der Kimono wird durch seine Form, seine Farbtöne und seine Schmuckmotive zu einem Symbol von Raum und Zeit. Hierzu kommt die Zen-Lehre, die in jeder Wesensart die Materialisierung der kosmischen Kraft und eine Verkörperung des Universums sieht.«
    Er stand dicht neben mir; ich fühlte die Wärme seines Körpers. In seiner Unbefangenheit lösten sich meine Ängste, Schleier um Schleier; es war, als ob es in meinem Inneren immer heller wurde, während er gelassen weitersprach.
    »Ohne es im geringsten zu ahnen, hast du als kleines Mädchen Übungen durchgeführt, die in gewissen Zen-Klöstern vollzogen werden. Der Zweck solcher Übungen besteht darin, die Gesamtwahrnehmung zu schärfen und jene Erleuchtung zu erlangen, die nichts anderes ist als die volle Nutzung des Gehirnpotentials.
    Diese Übungen können Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Und trotz aller körperlichen Askese erreichen die Eingeweihten nur selten ihr Ziel. Den meisten fehlt das Wesentliche: die völlige Unbefangenheit des Kindes, das die Erleuchtung erlebt, ohne darum zu wissen…«
    »Aber wenn ich wirklich solche Fähigkeiten habe, wozu sind sie gut? Was kann ich nur damit anfangen?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Liebste, jetzt überforderst du mich. Aber ich kenne jemanden, der es dir sagen könnte.«
    »Wer?«
    »Auf Sado lebt eine alte Frau. Ihr Name ist Kimiko. Sie ist eine ehemalige Mikosan, eine Priesterin. Jetzt pflegt sie den Garten unseres Dorf-Heiligtums. Am Bonten-Fest, im Februar, zog sie ein Orakel für mich. Sie sagte, in diesem Jahr würden sich drei wesentliche Dinge für mich ereignen: Ich würde der Füchsin begegnen, meine Haut erneuern und die Zeit besiegen. Danach würde ich die Zeichen des Lebens empfangen.«
    Ich

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