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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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starrte ihn an.
    »Was wollte sie damit sagen?«
    Er verzog das Gesicht, verschmitzt und etwas nachdenklich.
    »Kimiko drückt sich oft in Rätseln aus. Aber ihre Weissagungen erfüllen sich stets auf die eine oder die andere Weise.«
    Ich schlug die Augen nieder. Mein Geist kreiste, ganz sanft, ganz locker, in der 301
    Erinnerung.
    »Ken, wenn diese Sachen passierten, dann dachte ich stets an das Buch deiner Schwester… an den Kastanienbaum und an den Fuchs. Und dann war mir, als ob ich selbst in Fuchsgestalt aus meinem Körper spränge. Und sobald der Fuchs unter den Baum schlüpfte, geschah es…«
    Ein Schatten verdunkelte sein Gesicht. Er legte die Hand auf meinen Nacken und zog mich an sich. Ich drückte mein Gesicht an seinen Hals, fuhr mit der Zungenspitze über seine warme Haut. Als ich die Augen hob, lächelte er wieder, und ich lächelte zurück.
    »Auch das ist leicht zu erklären«, meinte er. »Deine Vorstellung hatte diese Elemente ritualisiert. Riten sind dazu da, um Körper und Geist in Einklang zu bringen und sie mit der unsichtbaren Welt zu verbinden. Nie schlage ich die O-Daiko, ohne sie vorher um Erlaubnis gebeten zu haben. Ich rufe die Macht in ihr an, frage sie, ob sie bereit sei. Meistens schenkt sie mir sofort ihre Kraft. Mitunter kommt es vor, daß sie träge ist. Ich muß sie reizen und herausfordern, ihr einen Teil meiner Lebenskraft opfern. Ganz plötzlich spüre ich dann, wie ihre Kraft erwacht, wie sie durch mich hindurchschießt, mich bannt und mich festhält. Sie ergreift mich körperlich und geistig. Wäre ich nicht stark genug, würde sie mich verschlingen. Nicht selten habe ich Musiker gekannt – unter ihnen begnadete Künstler –, die sich von ihrem Instrument behexen und zerstören ließen. Fast alle waren drogenabhängig. Sie meinten, daß sie mit Kokain oder ähnlichem besser spielen würden. Die Gefahr sahen sie nicht. Drogen zerstören die innerliche Substanz, der geschwächte Mensch wird Opfer seiner eigenen Dämonen.
    Urtümlichen Kräften kann man nur mit stabiler Psyche begegnen. Sie sind nicht böse, sie sind mächtig. Wenn ich meine Hand auf die Trommel lege und ihre Zustimmung erbitte, so geschieht es nicht etwa, um die Zuschauer zu beeindrucken. Ich grüße die O-Daiko als gotterfülltes Wesen und erneuere mein Bündnis mit ihr.«
    Als ich aufsah, merkte ich, wie seine Augen über mich hinweg ins Leere blickten. So schwiegen wir eine Weile, und er spielte so mit meinem Haar, daß mein Nacken vor Begehren erschauerte, doch ich rührte mich nicht, weil ich fühlte, daß er nachdachte. Dann kehrte sein Blick wieder zu mir zurück, offen und warm wie zuvor.
    »Das sind Dinge, die ich lernen mußte, und für mich war es fast schon zu spät.
    Du wußtest schon als Kind, was der menschliche Geist vermag. All das war schwer für dich. Aber das Starke in dir hat es herausgefordert und vermochte es auch zu bewältigen.«
    Ich sah kurz zu Boden, und dann schaute ich ihm in die Augen.
    »Manuel… damals… glaubst du, daß er es wußte?«
    Zum erstenmal vermochte ich seinen Namen auszusprechen, ohne zu zittern oder zu weinen.
    302
    Ken legte ruhig den Arm um mich.
    »Ja, Liebste. Er kannte dich besser als du dich selbst. Sagte er nicht: Mon Amie la Rose ist das intelligenteste Mädchen der Welt?«
    Mir blieb direkt das Herz stehen. Mon Amie la Rose. Der Name aus fernster Vergangenheit, von Kens sanfter, kehliger Stimme ausgesprochen, wurde zum klaren Spiegel. Einmal hatte mich das berührt, und es dauerte für alle Zeiten an.
    Diese immerwährende Erinnerung kam mit all den Farben und Gerüchen der Kindheit: dem Ockergelb der Häuser, dem Azur des Himmels, dem Schatten der Platanen, dem plätschernden Springbrunnen. Er kam mit dem Duft von nasser Erde und nächtlichen Zypressen, von Holzkohle, Myrrhe und Thymian, von frischem Brot und gebrannten Mandeln. Er kam zu mir mit der Ausstrahlung der Unschuld, der ersten Liebe, des ersten Schmerzes. Vor meinem inneren Auge erschien der Kastanienbaum, in Mondlicht getaucht, warf Schattenspiele voller Zärtlichkeit auf all mein Fühlen und Denken.
    »Er hat dich geliebt.« Ken sprach mit schleppender Stimme, die Augen in die Ferne gerichtet, als sähe er das gleiche Bild. »Er hat dir gezeigt, daß deine Fähigkeiten nichts mit Hexerei zu tun hatten. Daß der Mensch zu eng ist für die wunderbaren Kräfte des Geistes. Daß der Geist über Raum und Zeit hinaus in andere Welten reicht. Der Geist selbst ist das Universum, und es steht ihm

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