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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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frei, seine unendlichen Zyklen zu durchlaufen. Den Zyklus der Liebe, der Schönheit, der Dichtung und der Musik, den Zyklus der Entsagung und schließlich den Zyklus der Gnade, welcher das höchste Ziel derer ist, die nach Wesen und Ursprung aller Dinge suchen. Manuel wußte dies alles, obwohl er nur ein Kind war. Mon Amie la Rose, er wird dich niemals verlassen.«
    Ich lächelte, endlich besänftigt und getröstet.
    »Wie schön du diesen Namen aussprichst! Niemand hat mich so genannt seit damals.« .
    Doch er schüttelte den Kopf.
    »Nein. Das ist der Name, den er dir gegeben hat. Ich darf dich nicht so nennen, er würde traurig sein. In meinem Herzen nenne ich dich anders. Für mich bist du Inari.«
    »Inari?« flüsterte ich. »Was bedeutet das?«
    »Es ist der Name des Fuchsgeistes, der unsere Schreine bewacht. Das Symbol der freien Natur. Und dazu noch mein persönlicher Schutzgeist.«
    Ich merkte, wie er mich sanft auf das Bett niederzwang, wie er mit leichter Bewegung das Oberteil der Yukata über die Schultern gleiten ließ. Er streckte sich neben mir aus, nahm mich in die Arme. Ich legte den Kopf auf seine nackte Brust, spürte sein Herz unter meiner Wange schlagen, wie das ungeborene Kind im Mutterleib die vertrauten Töne hört, die es stärken und beruhigen. Ich schmiegte mich eng an ihn, machte mich ganz flach, um soviel wie möglich von seiner Haut zu berühren.
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    »Deine Schwester…«, flüsterte ich, »erzählst du mir von ihr?«
    Er zögerte, doch nur einen Atemzug lang.
    »Ja. Ich werde für dich in alten Erinnerungen kramen. Und ich will es tun, weil ich auch dich dazu gezwungen habe. Ich werde einige schlimme Dinge erzählen, Dinge, über die ich jahrelang geschwiegen habe. Nicht etwa, weil ich sie vergessen hatte, sondern weil ich lieber nicht daran denken wollte. Aber es ist schon besser, daß ich mir endlich das Zeug von der Seele rede. Wir können nicht sagen, es hat niemals existiert, bloß weil es vorüber ist.«
    Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. Er streckte den Arm aus und löschte das Licht. Kleine Fünkchen verweilten unter meinen Lidern, erloschen dann. In der Dunkelheit fragte ich:
    »Wirst du traurig sein?«
    »Nicht lange«, erwiderte er. »Es wird bald wieder gut werden, weil wir ja zusammen sind.«
    Ich hörte, schon halb im Schlaf, wie sein Herz schneller schlug und sich dann wieder beruhigte. Und so schliefen wir ein, jeder geborgen in den Armen des anderen, gebettet in der Gewißheit, daß wir einander gehörten und uns nichts Böses geschehen konnte, wenn wir uns nur fest, genug liebten.
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20. KAPITEL
    A ls wir aufbrachen, schien hell die Sonne. In den breiten Straßen mit ihren Gebäuden in allen Höhen schillerten Lichtschleier. Über den Baikonen hingen die Futons zum Auslüften, so daß sämtliche Wohnhäuser mit Farbflecken gewürfelt schienen. Die Stadt ließen wir bald hinter uns. Ken hatte mir vorgeschlagen, statt der direkten Autobahn nach Niigata eine längere Strecke zu wählen, die durch den Nationalpark von Nikko führte.
    »Ich möchte dir einige Dinge dort zeigen, die mir etwas bedeuten«, hatte er zu mir gesagt.
    Die Landschaft schimmerte in pastellfarbenen, glasklaren Tönen. Durch die Bäume leuchteten die türkisblauen Ziegeldächer der Bauernhöfe, und in den Obstgärten reiften die ersten Früchte. Zwischen Tälern und Hügeln war das Land zum Reisanbau angelegt. Die geometrischen Felder bildeten schachbrettartige Muster. Bauern in Gummistiefeln wateten im knietiefen Wasser. Die jungen Stecklinge bildeten kleine Buckel auf der trüben Wasseroberfläche oder schossen wie Messerspitzen heraus. Dann und wann wurden im Laub die karminroten Pfosten eines Torii sichtbar. Diese Portale mit ihren großen Querbalken deuteten auf das Vorhandensein eines Shinto-Schreins. Beim Anblick dieser Tore regte sich jedesmal etwas in mir. Ein schlagartig mich überkommendes Herzklopfen, etwas, das keinen Namen hatte, ein tiefes, natürliches Empfinden, aufwühlend wie in der Liebe. Etwas war hier, das auf mich wartete, das meine Seele erfüllte, mich mit unsichtbaren Händen erfaßte. Ich wußte noch nicht endgültig, was es war.
    Vielleicht hatte es etwas mit den Dingen zu tun, die sich in meiner Nähe ereigneten, wenn ich aufgeregt war. Jene Dinge, die Ken mir beigebracht hatte, nicht mehr zu fürchten.
    Die Autobahn stieg immer mehr an; zu beiden Seiten dehnten sich Wälder aus.
    Kiefern mit knorrigen Stämmen klammerten sich an die Felsen. Immer mehr fühlte ich

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